Veröffentlicht: 06.03.2019. Rubrik: Spannung
Gift
Katja hatte drei Süchte. Sie war süßigkeits- und koffeinsüchtig und vor allem krankhaft eifersüchtig. Jeder wunderte sich, dass ihr Freund Leo ihr nicht schon längst den Laufpass gegeben hatte.
Die beiden wohnten etwa zweihundert Meter voneinander entfernt. Leos Appartement befand sich in einem Haus, das er und seine Schwester Marie von ihren Eltern geerbt hatten. Auch Marie lebte dort, Tür an Tür mit ihrem Bruder.
Eines Tages sah Katja, als sie zufällig auf der anderen Straßenseite an Leos Haus vorbeiging, wie ihr Freund in Begleitung einer gertenschlanken jungen Frau aus der Tür trat. Ausgerechnet in diesem Moment sprach eine Bekannte sie an, und als sie diese reichlich unhöflich abgewimmelt hatte und sich wieder umdrehte, sah sie nur noch, wie die beiden in Leos Auto davonfuhren. Rasend vor Wut ergriff sie ihr Handy und rief Leo an. „Wer ist die Tussi, mit der du unterwegs bist? Ich hab euch aus dem Haus kommen sehen!“
„Du liebe Zeit, Katja, sei doch nicht immer so grundlos eifersüchtig! Das ist Harriet, Maries Brieffreundin aus England. Sie wohnt für eine Woche bei ihr. Sei froh, dass sie kein Deutsch versteht, sie kann dich nämlich hören. Wir fahren gerade zu Maries Büro. Sie hat gleich Feierabend. Die beiden wollen was in der Stadt unternehmen.“
Tatsächlich erinnerte sich Katja, dass Leos Schwester bei einem ihrer seltenen Zusammentreffen – die figurbewusste Marie mochte die ständig naschende Katja nicht – ihre Brieffreundschaft mit einer Engländerin erwähnt hatte. Trotzdem beunruhigte es sie, dass eine hübsche junge Frau direkt neben Leo wohnte.
Am Abend des angekündigten Abreisetags rief sie ihn an. „Ist sie weg?“
„Wer? Ach so, Harriet. Nö, sie hat ihren Urlaub um ein paar Tage verlängert.“
Katja explodierte. „Klar! Die will nie mehr weg! Merkst du nicht, dass sie hinter dir her ist?“
„Hör mal, jetzt spinnst du aber wirklich. Harriet ist verlobt! Abgesehen davon wüsste ich gar nicht, was ich mit so einer Bohnenstange anfangen sollte. Du weißt genau, dass ich mollige Frauen bevorzuge.“
„Ich hoffe, du bevorzugst nur mich!“, fauchte Katja.
*
Im Laufe der nächsten Tage wurde Katjas Eifersucht immer grotesker. Als sie schließlich erfuhr, dass die Britin wegen irgendwelcher Termine noch volle zwei Wochen bleiben wollte, war sie hundertprozentig davon überzeugt, dass Harriet sich Leo gekrallt hatte.
„Dieses Biest!“, schluchzte Katja, als sie allein in ihrer Wohnung war. „Am liebsten würde ich sie vergiften!“
Vergiften. Gift. An was erinnerte sie dieses Wort? Schließlich fiel es ihr ein. Der „Gift Shop“ im Flughafen… „Gift“ war das englische Wort für Geschenk!
Lange dachte sie nach. Dann stand ihr Plan fest. Zunächst streifte sie sich Handschuhe über und stopfte ihre Haare unter eine eng anliegende Mütze, um keine Fingerabdrücke oder DNA-Spuren zu hinterlassen.
Aus der hintersten Ecke eines Schranks holte sie ein Fläschchen mit einem Totenkopf auf dem Etikett hervor. Es stammte noch aus dem Haushalt ihrer verstorbenen Eltern und enthielt ein geruch-, geschmack- und farbloses Rattengift, das inzwischen wegen seiner Gefährlichkeit für Menschen nicht mehr hergestellt werden durfte. Wie Katja aus dem Internet wusste, waren mehrere Morde damit verübt worden. In der Regel merkten die Opfer eine halbe Stunde lang nichts und starben dann, nachdem sie ein aufkommendes Unwohlsein verspürt hatten, binnen weniger Minuten.
Katja schnitt von einem Marmorkuchen ein Stück ab und beträufelte es mit der todbringenden Substanz. Als diese eingesickert war, wickelte sie es in Geschenkpapier und schrieb darauf mit verstellter Schrift Harriets Namen und das Wort GIFT.
„Wenn Harriet daran stirbt, ist es ihre eigene Schuld!“, zischte sie. „Es steht schließlich groß und deutlich GIFT drauf. Wenn sie glaubt, das hieße ‚Geschenk‘, weil sie zu faul ist, die Sprache ihres Gastlandes zu lernen, dann kann ich ihr nicht helfen.“
An diesem Abend, das wusste Katja, waren Leo, Marie und Harriet alle auswärts. Sie steuerte das Haus an, zu dem sie einen Schlüssel besaß, öffnete die Tür und legte das Giftpaket vor Maries Wohnung. Dann kehrte sie wieder heim.
Der nächste Tag war ein Samstag. Jeden Samstag-Nachmittag ging Katja zu Leo und verbrachte das Wochenende mit ihm. Auch diesmal fand sie sich um 15 Uhr bei ihm ein und rechnete damit, gleich bei ihrer Ankunft die Todesnachricht zu hören. Doch Leo verhielt sich völlig normal. Wie immer hatte er seiner Freundin einen großen Teller mit Süßigkeiten hingestellt, ohne die sie nicht in Stimmung kam, und erzählte ihr, während sie aß und dabei eine Tasse Kaffee nach der anderen trank, von seinen Erlebnissen während der vergangenen Tage. Katja jedoch konnte sich auf nichts konzentrieren. Als sie alles aufgegessen und den letzten Schluck getrunken hatte, hielt sie es nicht länger aus. Scheinbar beiläufig fragte sie: „Wie geht es eigentlich Harriet?“
„Gut. Sie macht mit Marie und deren Freunden einen Ausflug.“
Katja bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
„Fängst du etwa wieder mit deiner Eifersucht an? Heute Morgen, wenn du’s genau wissen willst. In Maries Küche. Ich musste Marie etwas bringen und habe mich dann noch ein bisschen mit den beiden unterhalten. Was dagegen?“
„Worüber habt ihr gesprochen?“
„Du liebe Zeit, das hab ich mir doch nicht gemerkt. Hauptsächlich über den Ausflug. Ach ja, und dann ging es auch noch um Kuchen.“
„Um Kuchen?“ Katja hielt den Atem an.
„Ja. Harriet hatte von irgendjemandem ein Stück Kuchen geschenkt bekommen, aber weder sie noch Marie wollten es essen. Sie haben ja beide so einen Schlankheitsfimmel. Wegwerfen wollte Harriet es aber auch nicht. Es sei so liebevoll als Geschenk verpackt gewesen. Schließlich habe ich es mitgenommen und auf deinen Teller gelegt.“