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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2018 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 25.01.2019. Rubrik: Lustiges


Dativ-David

David hatte einen Tick. Es bereitete ihm fast körperliche Schmerzen, wenn seine Mitmenschen grammatische Fehler machten, und am meisten litt er unter dem Weglassen des ‚n‘ beim Dativ Plural. Deshalb hieß der Student in seinem Umfeld nur noch Dativ-David.

SatirepatzerSatirepatzerIn vielen Gaststätten der Stadt hatte er bereits Hausverbot. Sobald man ihm nämlich die Speisekarte reichte, zückte er seinen Kugelschreiber und begann, nach Verstößen gegen die Dativ-Regel zu suchen und die fehlenden ‚n‘ einzusetzen. Ob „Sauerbraten mit Klöße“ oder „Gemüseeintopf mit Kartoffelwürfel“ – alles erregte seinen Unmut. Besonders Fälle wie der letztgenannte, bei denen aufgrund des Fehlers der Plural wie der Singular aussieht, führten oft zu langwierigen Diskussionen mit dem Personal. („Ich wünsche mehrere Kartoffelwürfel!“ – „Wieso, natürlich sind da mehrere drin!“ – „Ja, dann muss aber ein ‚n‘ dahinter stehen: ‚mit Kartoffelwürfeln‘! Ohne ‚n‘ ist es nur einer!“)

Obwohl David nicht schlecht aussah, hatte er bei der holden Weiblichkeit kein Glück, denn welche Frau will beim Sprechen ständig an Regeln denken? Selbst Germanistik-Studentinnen, die die Grammatik verinnerlicht hatten, wurden unsicher und gerieten ins Stottern, wenn sie merkten, dass ihr Begleiter weniger dem Inhalt als den Endkonsonanten ihrer Rede seine Aufmerksamkeit schenkte. Länger als eine Woche hielt es keine bei ihm aus.

Zwei der wenigen Freunde, die er noch hatte, waren seine Kommilitonen André und Patrick. Sie machten sich Sorgen um ihn. „Er sollte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen“, meinte André. Patrick stimmte ihm zu, war aber skeptisch, ob David dazu bereit wäre.

Eine Woche später ging Patrick zu André, um ihm ein Buch zurückzubringen. Als er in Andrés Studentenbude ankam, traute er seinen Augen nicht. Auf dem Sofa saß eine bildhübsche junge Frau, die er noch nie gesehen hatte. André amüsierte sich, als er die Überraschung des Freundes bemerkte. „Das ist Maija. Sie studiert ebenfalls hier und kommt aus Finnland.“

Die beiden begrüßten sich. Maija sprach ein exzellentes Deutsch, mit ganz leichtem Akzent. „Denk dir“, sagte André, „Maija will David helfen, seinen Tick zu verlieren. Wir haben einen Plan entwickelt…“ Staunend hörte Patrick, was André und Maija sich ausgedacht hatten.

Als die Finnin sich wieder verabschiedet hatte, saßen die beiden Freunde noch ein wenig beisammen. „Ich hatte schon gedacht, sie sei deine Neue“, lachte Patrick. „Schön wär’s“, erwiderte André grinsend, „aber ich bin offenbar nicht ihr Typ. Jetzt bin ich gespannt, ob unser Plan zum Erfolg führt.“

*

Am nächsten Tag saß David wie immer allein an einem Tisch in der Uni, als Maija auf ihn zukam. „Hallo, bist du der David? Ich habe schon von dir gehört. Du bist ein Experte auf dem Gebiet der deutschen Grammatik, nicht wahr?“

Höchst geschmeichelt nickte David. „Das ist super“, sagte Maija, „dann können wir vielleicht zusammenarbeiten. Ich heiße Maija und komme aus Helsinki. Meine Muttersprache ist Finnisch. Sie ist noch viel komplizierter als Deutsch, denn sie hat nicht nur vier, sondern fünfzehn Fälle.“

„Wow!“, entfuhr es David.

„Und daneben sogar noch zwölf Adverbialkasus, die aber jeweils nur für wenige Wörter benutzt werden. Die meisten Finnen glauben, dass kein Ausländer sämtliche Fälle und ihre Anwendung erlernen kann. Ich will das bei Deutschsprachigen testen und mit dir anfangen, denn wenn du es nicht kannst, brauche ich es bei anderen gar nicht erst zu versuchen. Hier, auf diesen Blättern sind die finnischen Fälle – nur die fünfzehn hauptsächlichen – zusammengestellt und auf Deutsch erläutert. Könntest du dir das bitte bis morgen durchlesen? Dann treffen wir uns wieder hier, zur gleichen Zeit.“

*

Nominativ, Genitiv, Akkusativ, Partitiv, Inessiv, Elativ, Illativ, Adessiv, Ablativ, Allativ, Essiv, Translativ, Abessiv, Instruktiv, Komitativ. „Einen Dativ habt ihr nicht?“, fragte David, als sie sich wiedersahen.

„Nein, man kann schließlich nicht alles haben“, lachte Maija, „aber der Allativ entspricht oft dem deutschen Dativ. Hast du alles verstanden, was hier auf den Blättern steht?“

David druckste etwas herum und musste schließlich zugeben, dass er nach dem siebten oder achten Fall nur noch die Namen der weiteren Fälle gelesen hatte und auch diese schon nicht mehr wusste. „Es stimmt wohl tatsächlich“, sagte er, „dass eure Grammatik für Nicht-Muttersprachler einfach zu schwer ist. Außer vielleicht für ein paar Gelehrte, die sich auf das Finnische spezialisiert haben.“

Maija machte ein enttäuschtes Gesicht. „Ausgerechnet du sagst das! Zumindest du müsstest dich doch mit Fällen auskennen.“

„Tue ich ja auch. In meiner eigenen Sprache! Und eine Sprache mit sechs oder sieben Fällen könnte ich zur Not auch noch lernen. Aber fünfzehn sind einfach zu viel.“

„Wollen wir es nicht doch mal versuchen? Schau mal, das hier ist doch ganz einfach –"

„Nein!!“ Im selben Augenblick bereute er bereits, so schroff gewesen zu sein. „Sorry, Maija, ich wollte dich nicht kränken. Aber was nicht geht, das geht eben nicht. Übrigens muss ich jetzt zu einer Vorlesung. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag!“

Als er außer Hörweite war, ergriff Maija ihr Handy und rief André an. „Es fängt gut an“, kicherte sie, „er reagierte ganz wie erhofft.“

*

Zwei Tage später sah David in der Uni mit Erstaunen ein Trio auf sich zukommen: Maija, André und einen jungen Mann in Handwerkerkleidung. „Hallo David“, sagte André, „das hier ist Kevin. Wir kennen uns von früher. Ich zeige ihm ein bisschen die Uni.“

David begrüßte Kevin und die beiden anderen. „Toll siehtatt hier aus, boah“, begeisterte sich Kevin, der offenbar aus dem tiefsten Ruhrpott kam. „Schade, dattich nich viel Zeit hab. Ich muss noch bei die Müllers im Keller. Da is watt mitti Heizung nich in Ordnung. Hab zu Herr Müller gesacht, dattich bald komm.“

„Ja, das ist immer gut, wenn Handwerker schnell da sind“, nickte David freundlich.

Die drei gingen weiter in einen Nebenraum und schlossen die Tür hinter sich, damit David nichts hörte. „Nicht zu fassen!“, rief André aus. „Er hat nicht ein einziges Mal das Gesicht verzogen.“

„Und dabei habe ich mich doch bemüht, so falsch wie nur möglich zu sprechen“, lachte Kevin, der in Wirklichkeit Lehrer war und sich das Handwerkeroutfit von seiner Laienspielgruppe ausgeliehen hatte.

Maija war so euphorisch, wie man es von einer Nordeuropäerin kaum vermutet hätte. „Unser Plan geht auf!“

„Erklärt mir das Ganze doch bitte noch mal“, bat Kevin, „woher kommt es, dass David nicht mehr so allergisch auf Grammatikfehler reagiert?“

„Nun“, antwortete André, „David musste gegenüber Maija zugeben, dass er nicht imstande war, die fünfzehn Fälle des Finnischen zu lernen. Für ihn war das natürlich eine Niederlage. Um das Gesicht zu wahren, tut er jetzt so, als sei Grammatik völlig nebensächlich.“

„Verstehe“, grinste Kevin. „Der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen, sagt, sie seien sauer.“

*

Einige Wochen waren seitdem vergangen. Mit Staunen beobachteten André und Patrick die wundersame Wandlung ihres Freundes. Er selbst sprach zwar weiterhin korrekt, regte sich aber nicht mehr über die Fehler anderer auf.

Am meisten aber staunte Maija. David und sie trafen sich hin und wieder in einem Café, und obwohl dessen Speisekarte von Fehlern nur so strotzte, blieb Davids Kugelschreiber in seiner Tasche.

„Sag mal, Maija“, fragte er sie eines Tages, „muss man tatsächlich alle fünfzehn Fälle lernen, um Finnisch sprechen zu können?“

Überrascht sah Maija von ihrem Eisbecher hoch. „Nein, natürlich nicht. Für Ausländer genügt ein Grundwortschatz. Willst du etwa Finnisch lernen? Warum?“

„Deinetwegen“, antwortete David. Zögernd fügte er hinzu: „Ich kenne da ein kleines Gedicht. Es wurde im neunzehnten Jahrhundert von Adolf Glaßbrenner verfasst und ist zum Teil im Berliner Dialekt geschrieben, aber du wirst es trotzdem verstehen.“ Er nahm all seinen Mut zusammen, sah Maija in die Augen und sprach:

Ich liebe dir, ich liebe dich,
wie’s richtig is, ich weeß es nich,
doch klopft mein Herz so schnelle!
Ich lieb nicht auf den dritten Fall,
ich lieb nicht auf den vierten Fall,
ich lieb auf alle Fälle.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 06.03.2019:

Hach, einfach schön, so schön romantisch. Und ich bin immer wieder beeindruckt, wievie du über Sprachen weißt. Bist du Übersetzerin oder Fremdsprachenkorrespondentin? Das wollte ich nämlich früher mal lernen...




geschrieben von Christine Todsen am 07.03.2019:

Hallo Weißehex, früher war ich tatsächlich als Übersetzerin tätig. Seit einigen Jahren bin ich im Ruhestand und schreibe Erzählungen. Da ich mich nach wie vor für Sprachen interessiere, lasse ich meine linguistischen Kenntnisse oft in meine Geschichten einfließen. Schöne Grüße!




geschrieben von Weißehex am 07.03.2019:

Hallo Christine, freut mich, dass ich richtig gelegen habe. Ich dachte mir, dass man für diese Kenntnisse schon einiges Hintergrundwissen haben muss. Liebe Grüße Weißehex

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