Veröffentlicht: 24.01.2019. Rubrik: Menschliches
Felix und sein Opa
Dienstag war für Felix immer Opatag. Nach der Schule machte sich der Zwölfjährige nicht wie gewöhnlich auf den Heimweg, sondern fuhr mit der Straßenbahn bis ans andere Ende der Stadt, um den Nachmittag bei seinem Opa zu verbringen.
Für den Rentner, seit drei Jahren verwitwet, waren die Besuche seines einzigen Enkels immer eine Freude, und auch Felix genoss sie. Seine anderen Großeltern – die Eltern seines Vaters – waren schon vor seiner Geburt gestorben, sodass von vier Großelternteilen jetzt nur noch sein Opa mütterlicherseits da war. Mit ihm konnte er über vieles reden, wofür seine Eltern entweder keine Zeit oder kein Interesse hatten.
„Opa“, fragte er eines Tages, „stimmt es, was unser Religionslehrer heute sagte: dass es Adam und Eva in Wirklichkeit nie gegeben hat?“
„Ja, das stimmt“, nickte der Großvater, „von einem einzigen Paar kann die Menschheit nicht abstammen. Wo hätten denn deren Söhne ihre Frauen herkriegen sollen.“
„Dann ist die Sache mit der Schlange und dem Apfel in Wirklichkeit auch nicht passiert?“
„Wortwörtlich genommen nicht. Aber weißt du, Felix, diese Erzählungen sind sinnbildlich gemeint. Adam und Eva stehen für uns Menschen, und wir neigen nun einmal dazu, am liebsten genau das zu tun, was wir nicht sollen. Adam und Eva durften die Früchte von allen Bäumen im Paradies essen, nur von einem nicht – und prompt taten sie es. Das nennt man den Reiz des Verbotenen.“
Felix sah zweifelnd drein. „Glaubst du wirklich, Opa, dass alle Menschen so sind?"
„Das glaube ich nicht nur. Das weiß ich.“
„Ich bin nicht so“, protestierte Felix. „Ich an Adams Stelle wäre mit den anderen Früchten im Paradies zufrieden gewesen. Außerdem mag ich keine Äpfel. Birnen finde ich viel leckerer.“
Jetzt musste sein Opa herzlich lachen. „In der Bibel steht gar nicht, welche Frucht es war. Es kann genauso gut eine schöne, saftige Birne gewesen sein.“
Felix zögerte nur kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Auch dann wäre ich nicht so dumm gewesen wie Adam. Es gab schließlich genug anderes Obst.“
„Na, wenn du meinst“, schmunzelte der Großvater und wechselte das Thema.
*
Als Felix am nächsten Dienstag bei seinem Opa schellte und dieser ihm öffnete, sah der Junge ihn erstaunt an. Der alte Herr war schon im Mantel und trug seine Aktentasche unter dem Arm. „Felix, es tut mir leid, aber ich muss dich für ein Stündchen allein lassen. Mein Kundenberater bei der Bank will mich sprechen. Ich habe dir Limonade und Kekse ins Wohnzimmer gestellt.“ Er zeigte seinem Enkel den Tisch, auf den er auch einige Bildbände gelegt hatte. „Hier, diese Tierbücher guckst du dir doch immer gern an. Natürlich kannst du auch deine Hausaufgaben machen. Oder meinetwegen fernsehen. Kurz, tu was du willst. Nur an die schmale gelbe Schublade dort darfst du nicht gehen.“
„Warum nicht?“, fragte Felix wie aus der Pistole geschossen.
„Weil ich es nicht möchte.“ Die Stimme des Großvaters war ungewöhnlich scharf. Dann fuhr er mit seiner normalen Stimme fort: „Also, amüsiere dich gut. Bis gleich!“
*
Felix stand im Wohnzimmer und betrachtete den Schrank, in dessen Mitte sich die gelbe Schublade befand. Nie zuvor war sie ihm aufgefallen. Merkwürdig, dass Opa seine geheimen Sachen ausgerechnet in ihr aufbewahrte, obwohl sie wenig Raum bot und nicht abschließbar war.
Er setzte sich an den Tisch und blätterte in den Bildbänden, während er die Limo trank und die Kekse verspeiste. Doch er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder glitten seine Augen hinüber zu der gelben Schublade. Gar zu gern hätte er gewusst, was drin war.
Ein „Stündchen“ hatte Opa wegbleiben wollen. Zwanzig Minuten war er jetzt schon fort. Wenn er wie geplant zu dem Gespräch in der Bank gegangen war, käme er wohl in einer guten halben Stunde wieder. Es konnte aber auch sein, dass er vorzeitig zurückkehrte, weil er etwas vergessen hatte oder weil sein Kundenberater den Termin verschieben musste.
Wäre ich hundertprozentig sicher, dass ich genug Zeit hätte, dachte Felix, würde ich versuchen, die Schublade zu öffnen. Ich würde den Griff mit einem Taschentuch anfassen, denn meine Hände wären vor Aufregung bestimmt schweißnass. Zunächst würde ich durch leichtes Ziehen und Zurückschieben testen, ob die Schublade sich einwandfrei bewegen lässt und nicht klemmt. Ist in dieser Hinsicht alles in Ordnung, würde ich sie öffnen, aber nur reingucken. Nichts anfassen oder gar rausnehmen. Danach würde ich sie sofort wieder schließen.
Er trat ans Fenster und blickte in die Richtung, aus der sein Großvater zurückkommen musste. Noch war er nicht zu erspähen. Es konnte allerdings auch sein, dass er schon am Haus angelangt war, denn den Bereich vor der Tür konnte man vom Fenster aus nicht sehen.
Eine Packung Papiertaschentücher kann ich mir ruhig schon mal bereitlegen, dachte Felix. Wenn die auf dem Tisch liegt, wenn Opa früher als erwartet reinkommt, wird er keinen Verdacht schöpfen.
Er nahm eine aus seiner Schultasche und überlegte dabei, ob er noch weitere Vorbereitungen treffen konnte, aber ihm fiel nichts ein.
Jetzt ist Opa schon vierzig Minuten weg, dachte Felix. Ich stelle mich wieder ans Fenster. Wenn ich ihn um die Straßenecke biegen sehe, wird es bei seinem langsamen Tempo noch eine Weile dauern, bis er hier angekommen ist…
Wieder blickte der Junge die Straße hinunter. Da! Der Großvater bog um die Ecke. Jetzt oder nie!
Felix nahm ein Papiertaschentuch – tatsächlich waren seine Hände schweißnass – und umfasste damit den Griff der gelben Schublade. Sie ließ sich leicht bewegen. Er öffnete sie einen Spaltbreit und lugte hinein.
Sie war leer.
Nein, nicht ganz. Unten glänzte etwas. Felix hatte jetzt keine Bedenken mehr. Er zog die Schublade vollständig heraus, wobei er lediglich darauf achtete, sie nicht aus dem Schrank zu reißen. Dann blickte er von oben hinein und schaute zu seinem grenzenlosen Erstaunen in sein eigenes Gesicht.
Ein Spiegel lag dort. Umrandet war er von einem braunen Rahmen, der Felix‘ Gesicht wie ein Porträt erscheinen ließ. Am unteren Rand war ein Schild angebracht, auf dem in der steilen Schrift seines Opas ein Name stand: ADAM.