Veröffentlicht: 14.04.2019. Rubrik: Menschliches
Omas kleines Gärtchen
Nach vielen Jahren traf Lilly auf einem Familientreffen ihre zehn Jahre ältere Cousine Dorothee wieder. Beide waren in derselben Kleinstadt geboren worden, aber Dorothee wohnte noch jetzt dort, während Lilly nur die ersten vier Jahre ihres Lebens dort verbracht hatte. Kurz nachdem die Großmutter der beiden Cousinen gestorben war, waren Lillys Eltern mit ihr und ihrem kleinen Bruder ins Ausland gezogen.
Natürlich erkannten Lilly und Dorothee sich zunächst nicht wieder, aber nachdem eine Verwandte beide einander vorgestellt hatte, kamen sie schnell ins Gespräch.
„Ich kann mich kaum noch an Oma erinnern“, bedauerte Lilly. „Doch, warte mal… hatte sie nicht irgendwo so eine Art Schrebergarten?“
Dorothee schüttelte erstaunt den Kopf. „Nein, bestimmt nicht. Da musst du etwas verwechseln.“
„Ich bin mir jetzt aber ziemlich sicher, dass wir manchmal zu ‚Omas kleinem Gärtchen‘ gingen! Warst du nie dabei?“
„Ach so…“, sagte die Ältere lächelnd. Das Gesicht der Jüngeren war ein einziges Fragezeichen.
„Lilly, ich weiß, was du meinst. Du warst ja damals noch ganz klein. Früher haben Erwachsene die Kinder oft angelogen, weil sie glaubten, diese verstünden die Wahrheit noch nicht – oder weil es für die Erwachsenen bequemer war. Deshalb hat man dir gesagt, man ginge zu ‚Omas kleinem Gärtchen‘.“
Alarmiert fragte Lilly: „Was war denn mit diesem Gärtchen los? Ich kann mich tatsächlich erinnern, dass dort irgendwelche Blumen wuchsen…“
„Das stimmt auch. Es war Opas Grab auf dem Friedhof.“