Veröffentlicht: 21.08.2024. Rubrik: Persönliches
Kraftsolms
So lautet der Name meines Geburtsorts in Hessen, den ich vor über 40 Jahren verlassen habe, um erst in Frankfurt, dann in Spanien und später in München zu leben und zu arbeiten.
Vieles, für meinen Geschmack zu vieles, hat sich seitdem verändert. Der gesamte Einzelhandel ist verschwunden: Bäcker, Metzger und auch all die anderen kleinen Geschäfte wurden für immer geschlossen. Menschen, die auf der Straße oder am Fenster ein „Schwätzchen“ halten, sucht man vergebens. Auf dem Weg zum Friedhof begegne ich keinem einzigen Menschen – das Dorf wirkt unter der Woche wie ausgestorben, nur einige Hunde warnen hinter verschlossenen Hoftoren: „Hier wache ich !“ Auch das gab es in meiner Kindheit nicht.
Ich spaziere durch die Wehrstraße und denke bei dem ersten Haus auf der linken Seite an die liebe Tante Elli, einer Freundin und Nachbarin meiner Oma, die im Spätsommer immer leckeres Pflaumenmus kochte. Nicht etwa in einem Topf in der Küche – nein - es war ein mächtiger Kupferkessel, der über einer Feuerstelle eingemauert war. Den süßen, würzigen Duft des sämigen Brotaufstrichs habe ich noch heute in der Nase. Oma konnte von ihrem Küchenfenster in den Hof der Nachbarsfamilie schauen und sich – ohne das Haus verlassen zu müssen – mit Tante Elli unterhalten. Wie praktisch - fast wie WhatsApp. Wenn ich von Tante Elli erzähle, dann bedeutet das nicht, dass wir miteinander verwandt waren. Es war einfach so üblich, dass Kinder fast alle Männer mit Onkel und Frauen mit Tante ansprachen. Die Dorfbewohner waren wie eine große Familie.
Zu dem Wohnhaus meiner Großeltern gehörte die Dorfmetzgerei und eine Scheune mit altem Fachwerk aus dem 18.Jh. Direkt gegenüber befand sich das Wirtshaus „Zum Adler“, in dem sich die Waldarbeiter nach getaner Arbeit trafen, bevor sie mit ihren Kaltblütergespannen nach Hause fuhren.
Daneben folgt das Geburtshaus meiner Oma. Ihre Schwester Marie hatte das Erbe des Familiendomizils angetreten und wohnte dort mit ihrem Mann Robert und der Familie ihrer Adoptivtochter Emmi. Robert war der „Schellenmann“ , der die aktuellen Dorfnachrichten ausrief. A, Ende der Straße fällt mein Blick auf den trockengelegten Löschteich, in dem mein Vater als kleiner Junge Kaulquappen gefangen hatte.
Ich gehe weiter und blicke rechts in eine kleine Seitenstraße, die früher zur Bäckerei Meder führte. Die Nussecken und Amerikaner galten als Delikatesse, die es nur zu besonderen Anlässen auf der Kaffeetafel gab. Heute ist die Bäckerei verschwunden und somit gibt es auch keinen Grund mehr, den Weg weiter zu gehen. Ich mache Kehrt und schlendere zurück zur Hauptstraße, die sich wie eine Hauptschlagader durch den Ortskern windet. Früher wälzte sich der gesamte Durchgangsverkehr durch dieses Sträßchen. Militärkolonnen mit Panzern, Langholztransporter, Traktoren und Pkw’s. Heute gibt es eine Umgehungsstraße und die einst pulsierende Hauptstraße wirkt wie eine Fußgängerzone.
Bei dem ersten Haus, auf der linken Seite, erinnere ich mich an das Kurzwarengeschäft „Viehmann“. Man betrat den Hof, ging eine Treppe hoch zur Haustür und dann gleich links in den Verkaufsraum. Hier kaufte ich viele, viele Male Gummibänder, die, wenn sie ausgeleiert waren, bei den Unterhosen ausgewechselt werden mussten. Als Belohnung für den Einkauf bekam ich die ausgeleierten Gummizüge, die für das Spiel „Gummitwist“ unentbehrlich waren.
Nur einen Steinwurf weiter sehe ich in einer Seitenstraße das alte Backhaus und den Hof des früheren Kolonialwarenladens „Sehnches“. Es war eine logistische Meisterleistung, auf so wenig Platz ein derart großes Warensortiment zu führen und auch auf Anhieb alles zu finden. Wenn ich dort einkaufte, begrüßte mich oft das Pferd „Max“, der neugierig vom Pferdestall in den Hof schaute. Merkwürdig, an welche Details man sich nach 60 Jahren erinnert.
Genau wie bei dem gegenüberliegenden Haushaltswarengeschäft „Benjobs“. Neben Nützlichem für Küche und Haushalt konnte man dort Unmengen an Kitsch kaufen, der zum Schrecken der Dorfbewohner an Ehrentagen verschenkt wurde. Auch in meiner Familie fristen noch einige dieser Relikte ihr Schattendasein in einer dunklen Ecke.
Die Infrastruktur war für ein 900 Seelendorf wirklich beachtlich. Ein Bahnhof, mit stündlicher und zuverlässiger Bahnverbindung in die Kreisstadt Wetzlar. 2 Tankstellen mit Kfz-Werkstätten, 4 Gaststätten, 4 Kolonialwarenläden, Saftkelterei, Innenausstatter, Metzger, Bäcker, Post, Sparkasse, Volksbank, 3 Friseure, Schule, Schmied, Schreinerei, Sägewerk – heute ist alles weg.
Stallungen sowie Scheunen wurden in Garagen umgebaut. Auf dem Grund früherer Schrebergärten stehen jetzt Wohnhäuser. Alte Häuser im Ortskern fanden neue Besitzer aus dem Frankfurter Großraum, die sich mit dem Dorfleben von früher weder auseinandersetzen noch identifizieren. Bei mir hingegen weckt jedes Haus Erinnerungen und ich wundere mich über mich selbst. Eigentlich gehöre ich zu den Pionieren und nicht zu den Bewahrern. Ich war immer aufgeschlossen für Neues und die Enge, in Verbindung mit dem ewigen Dorftratsch hatten mich einst in die Ferne getrieben. Ist es das Alter, das mich das frühere Dorfleben plötzlich mit ganz anderen Augen sehen lässt ? Nicht nur das Dorf hat sich verändert, auch ich.