Veröffentlicht: 13.07.2024. Rubrik: Menschliches
Der alte weis(s)e Mann
Er steht vor einer Wurstbude am Viktualienmarkt und man sieht seinen Augen an, dass er die Menschen um das, was sie in ihrer Hand halten, beneidet: eine Bratwurstsemmel. Eine Selbstverständlichkeit für die, die sie gerade verzehren, ein unerschwinglicher Luxus für den alten Mann. Ich gehe auf ihn zu und frage: „Darf ich Sie auf eine Bratwurst einladen ? Zu zweit schmeckt es gleich doppelt so gut, denn ich wollte mir auch gerade eine holen.“ Seine müden Augen werden im Nu hellwach und er schaut mich ungläubig an. „Kommen Sie. Wollen Sie auch etwas dazu trinken ?“ fragte ich meinen Gast. „Eine Cola hätt‘ ich gern“, antwortet er schüchtern.
Mit unserer Bratwurstsemmel in der Hand, stellten wir uns an einen Stehtisch. Mein Gegenüber ist mittellos, aber nicht verwahrlost. Seine langen weißen Haare und der volle Bart sind gepflegter, als bei vielen anderen Menschen, die man so trifft. Nur seine Schuhe und die Plastiktüten verraten, dass sein Zuhause die Straße ist. „Lassen Sie es sich schmecken“ sage ich. „Vergelts Gott“, antwortet er höflich“ und es ist nicht zu überhören, dass diese Worte keine simple Floskel sind , sondern von Herzen kommen. „So hätte ich mir mein Alter auch nicht vorgestellt“, beginnt er zu erzählen. „Ich hatte eine große Schreinerei und hab viel Geld verdient. Aber auch viel Geld ausgegeben. Reisen an die Cote d’Azur, Champagner – alles nur vom Feinsten. Ich hab‘ nix ausgelassen. Nur an Altwerden hab‘ ich nie gedacht, keine Rentenbeiträge einbezahlt und auch nicht gespart.“ Wenn er spricht, meidet er den Blickkontakt – er schaut in die Ferne, als würde er vergangene Tage suchen. Sein Suchen bleibt erfolglos und er nippt wieder an der Cola und fährt fort “ Ich bin selbst schuld, dass es mir heute so geht.“ „Wo schlafen Sie?“ frage ich. „In einem Bunker, in Grünwald. Ich stehe aber auf der Warteliste für einen Platz in einem Seniorenheim für Obdachlose.“ Die Offenheit, mit der er aus seinem Leben erzählt überrascht mich. „Sind Sie aus München ?“ fragt er mich und ich erzähle ihm, dass ich in Hessen geboren wurde, aber seit mehr als 30 Jahren in München lebe. „Wo denn in Hessen ?“ fragt er interessiert. „Kennen Sie Wetzlar ?“ frage ich zurück. „Ich war noch nie da, weiß aber, dass Goethe dort gelebt hat“. Ich bin sprachlos, erst recht als mein Gegenüber ergänzt „Goethe hat mich immer fasziniert. Ich habe fast alles von ihm gelesen“. Wer hätte das gedacht ?
Der Klang der Kirchturmglocken erinnerte mich an meinen Arzttermin. Ich entschuldige mich, dass ich mich nicht länger mit ihm unterhalten kann, verspreche aber, dass wir das fortsetzen, wenn ich ihn wieder in der Stadt sehe. Ich habe ihn wieder getroffen und auch wieder mit ihm geplaudert. Was ? Das bleibt privat.