Veröffentlicht: 01.06.2024. Rubrik: Aktionen
Die alte Schachtel
Ich weiß, du würdest mir zürnen, wenn du wüsstest, dass ich sie immer noch nicht entsorgt habe, wie einen Schatz aufbewahre. Ich weiß aber auch, du würdest mir schnell mit einem Kuss die Absolution erteilen, wenn du es dir auch nicht verkneifen könntest, noch mahnende Worte anzuhängen. Ich solle doch mein Leben leben, und nicht in Erinnerungen feststecken. Ich hätte doch noch so viel zu geben und nur, weil du nicht mehr da bist, aufhören zu lieben.
Behutsam hebe ich den Deckel der alten Schachtel an, um jegliche Beschädigung zu vermeiden, den Alterungsprozess nicht unabsichtlich zu beschleunigen. Wer weiß schon, wie viele Male ich ihn noch anheben werde, um Erinnerungen aufleben zu lassen, die dann so intensiv werden, dass sie kaum zu ertragen sind.
Mein Taschentuch liegt bereit und ich hoffe, es nicht in Nutzung bringen zu müssen, auch wenn ich jetzt schon ahne, dass es mir wahrscheinlich nicht gelingen wird. Dein Antlitz erwartet mich und es bleicht langsam, weil ich es bereits mit so vielen Liebkosungen bedachte. Es wird wohl Zeit, eine neue Kopie anfertigen zu lassen, auch wenn der Gang zum Copyshop mir Unbehagen bereitet.
Warum ist die Frau hinter dem Tresen auch nur so empathisch, dass ihr schon die Tränen in den Augen stehen, wenn ich nur durch die Tür komme. Sie weiß, um unser Schicksal, und manchmal ärgere ich mich darüber, dass ich sie in einem schwachen Moment teilhaben ließ, wo sie doch nur eine Fremde war.
Dein Bild in meinen Armen zu halten, schenkt mir Kraft und Zuversicht, auch diesen bevorstehenden Tag, ohne dich durchzustehen. Warum ist mir nicht ganz klar, aber ich habe es dir am Bett versprochen, mein Leben nicht freiwillig fortzugeben, um dir nachzueilen. Vielleicht war mein Versprechen ein Fehler, denn ohne dich ist jeder Tag so einsam und leer, so leer.
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