Veröffentlicht: 27.04.2024. Rubrik: Unsortiert
Die Geschichte von Thomas S.
Thomas war ein einfacher Seminarteilnehmer. Still saß er da und hörte zu als wenn er selbst überhaupt keine Probleme hätte.
Bei einem meiner Tests ging es um Ehrlichkeit. Unter einem Vorwand gab ich ein paar
falsche Geldscheine in die Gruppe, die ein früherer Seminarteilnehmer täuschend echt hergestellt hatte und passte auf, ob jemand so einen Schein verschwinden ließ. Thomas brachte mir einen 100,- € - Schein mit spitzen Fingern und fühlbar erregt zurück. „Damit will ich nie wieder was zu tun haben“, begann er. „Damit Ihr es alle wisst, ich habe meine Strafe abgesessen. Nach 5 Jahren haben sie mich wegen guter Führung entlassen obwohl ich ja eigentlich 7 Jahre bekommen hatte.“
Atemlose Stille. Das Arbeitsamt hatte mir nichts davon gesagt.
„5 Jahre? Da muss ja richtig was los gewesen sein! Erzähl doch mal, wenn Du willst.“
„Also das war so. Außer Autofahren habe ich ja nichts gelernt. Aber das richtig! Sogar einen Ralleykurs habe ich mitgemacht. Da habe ich abends in der Kneipe Leute kennen gelernt, die wollten einen Bankeinbruch machen. Die haben nen Fahrer gesucht. Hab das alles nicht so ganz begriffen. Der Arzt im Knast meinte auch, die hätten mich gar nicht so hoch verurteilen dürfen, weil ich gar nicht kapiert habe, was da abgehen sollte.“
„Jetzt mal langsam, warum bist Du denn ins Gefängnis gekommen?“
„Na ja, die haben mich als Fahrer eingesetzt, weil ich ja so gut fahren kann. Vor der Bank
hab ich mit dem Wagen gewartet, 6 Zylinder-BMW, super Renner. Die haben gesagt, wenn wir zu Dir ins Auto steigen, nur weg. Und wenn einer hinter uns her ist, gib richtig Gas,
fahren kannst Du ja. Aber da kamen an dem Abend nicht die Kumpels, auf einmal stand da die Bullerei mit lauter Pistolen um mich rum. Da bin ich mit Händen über dem Kopf ausgestiegen.“ „Und dann?“
„Die haben mich gleich ins Gefängnis gebracht und mich die ganze Nacht verhört, die
anderen waren ja über alle Berge.“ „Wie was? Die Kumpel waren weg und Du wurdest als einziger gefasst?“ „Klar, ich wusste ja nicht mal die richtigen Namen von denen. Die haben mich ja immer wieder gefragt, aber da konnte ich nicht helfen. Na ja, der Anwalt, den sie mir gestellt haben war ja auch alt und kurz vor fertig, der hat den ganzen Vormittag beim
Prozess nur rumgesessen und nichts gesagt. Im Knast hat dann auch einer gesagt, 7 Jahre wär für ne Beihilfe viel zu viel, wo die doch gar nichts erbeutet haben, weil die Alarmanlage losging. Aber die haben einen auf Mittäterschaft gemacht, da gibt es wohl mehr.“ „Ja und dann?“ „In der Werkstatt hab ich gearbeitet, hab ne richtige Schlosserlehre gemacht. Einer hat mir Geldschrankaufschweißen beigebracht. Also mit nem richtig dicken Brenner. Wer
weiß wofür Du das noch mal gebrauchen kannst, hab ich mir gedacht.“
Wenig später schaute ich mir das Lehrabschlusszeugnis an. Vom Land Baden-Württemberg ausgestellt, weil die Lehre ja in einem landeseigenen „Institut“ absolviert wurde. Das sah schon ungewöhnlich aus. Kein Hinweis auf die Prüfungskommission, keine Unterschrift eines Meisters wie sonst üblich.
Ich zeigte das Zeugnis einem Meister an der örtlichen Gewerbeakademie. „Oje, frisch aus
dem Knast, das sieht jeder sofort, der sich auch nur ein bisschen damit auskennt.“ „Dann hat der Mann also keine Chance hier draußen?“ „Probieren Sie es mal bei der Caritas oder anderen wohltätigen Unternehmen, vielleicht hat er da eine Chance.“
Ich versuchte es, sprach mit Behörden und Personalleitern, freundliche Ablehnung überall.
„Da will doch jeder gleich wissen, was der auf dem Kerbholz hat,“ meinte einer.
Ich forderte ein Führungszeugnis an. Da standen nur Zahlen, §§ 25 II, 243 StGB, also Mittäterschaft zum Einbruchdiebstahl. Da brauchte nur jemand im Strafgesetzbuch nachzusehen und wusste, dass Thomas ein Verbrecher war, der es mit fremdem Eigentum nicht so genau nahm. Also keine Chance auf ein Praktikum, geschweige denn auf eine Einstellung.
Ich sprach mit Freunden. Da kommt jemand aus dem Knast, der für etwas verurteilt wurde, von dem ihm nur bruchstückhaft klar war, was er tat. Er macht mit großem Eifer eine Lehre in der JVA und dann ist Ende der Fahnenstange. Was bleibt ihm anderes als wieder straffällig zu werden? War das der Sinn eines modernen Strafvollzuges? Immer wieder sprach ich mit ihm. Er war hoch motiviert und wollte endlich arbeiten. In seinem Beruf. Wofür war er denn
in der Gefängniswerkstatt ausgebildet worden und hatte vom Meister und den Kollegen nur Gutes über seine Arbeit gehört?
Plötzlich hatte ich eine Idee. „Wie hieß der Meister?“ „Das war der Herr Maier, der war
immer so nett zu mir. Du schaffst das, hat er immer gesagt, wenn einer dann Du! Und dann hab ich es ja auch geschafft. Sogar das ganze Theoriezeugs mit Fachzeichnen und Fachrechnen. Wenn die anderen im Fernsehraum saßen, hab ich in meiner Zelle gesessen
und gebüffelt. Die Prüfung hab ich dann ja auch mit Auszeichnung bestanden. Aber was soll der Scheiß, wenn mich jetzt noch nicht mal jemand zum Praktikum nimmt, weil sie alle Angst haben, dass ich ihnen was klaue. Verdammte Scheiße!“
Ich spürte seinen unterschwelligen Hass auf die Behörden, die ihn erst gefördert hatten und dann im Stich ließen. Das hatte alles ein hohes Aggressionspotential.
Am Wochenende nahm ich ihn mit nach Ravensburg. Wir sahen uns den Knast von außen
an. Er kam ins Fließen, es schüttelte ihn, er weinte bitterlich. „Bitte bitte nicht wieder da hin! Das war alles so furchtbar, so entwürdigend. Ich hab Dir vieles nicht erzählt, ich tu alles, nur nicht wieder da hin!“
Ich war beeindruckt und gerührt, schlief in der Nacht nicht gut.
Am Montag stellten wir gemeinsam ein Geschäftspapier her. Schlosserei Maier, mit einem schönen Logo. Als Adresse ein altes Geschäftshaus in Ravensburg, das leerstand. Hier hätte es sein können. Dann noch ein professionelles Lehrzeugnis mit handgeschriebener
Unterschrift von Herrn Maier. Und den Lebenslauf geändert. Statt 5 Jahre JVA 4 Jahre Schlosserlehre in der Metallwerkstatt Maier.
Thomas bewarb sich bei einer Mosterei gleich um die Ecke. Die nahmen ihn zum Praktikum. Bei einem Besuch schaute mich der Chef aufmerksam an. „Warum bekommt ein Mann wie
der keine Stelle? Der ist einfach super. Kommt sogar freiwillig am Samstag und fegt die Werkstatt. So was an Motivation habe ich noch nicht erlebt. Ist irgendwas mit dem, was ich wissen sollte?“
„Ja, unser Thomas hatte ne längere Auszeit, krankheitsbedingt. Hatte mit einem Bruch zu
tun. Darf halt nicht mehr so schwer heben, muss er aber hier auch nicht oder?“ „Auf keinen Fall, den lassen wir nur die Pumpen und das ganze technische Gerät warten, der ist viel zu schade für irgendwelche Hauruckarbeiten.“ Nach 3 Monaten Praktikum wurde Thomas in
eine feste Anstellung übernommen.
Wir hatten ein Seminarnachtreffen organisiert. Der Leiter der Gewerbeakademie begegnete Thomas auf der Treppe. „Mensch Thomas, ich freu mich so, dass Du die Stelle bekommen hast! Nur noch eine Frage: was ist das Wichtigste, was Du während Deiner Zeit hier gelernt hast?“ Thomas überlegte einen Augenblick. „Dass man es mit der Wahrheit nicht immer so ganz genau nehmen darf, wenn man erfolgreich sein will.“
Als mich der Leiter am nächsten Tag misstrauisch fragte, was er wohl damit gemeint hätte, schüttelte ich den Kopf. „Keine Ahnung, das muss ein Missverständnis gewesen sein.“
Nachtrag: selten habe ich an einem Missverständnis so intensiv gearbeitet und mich über das Ergebnis so gefreut. Das Recht in die eigenen Hand zu nehmen ist eine gefährliche Sache. Aber wenn man es richtig macht, wunderbar.
Konstanz 1998