Veröffentlicht: 27.04.2024. Rubrik: Unsortiert
Anders oder der Mann, der nichts Böses behalten konnte
Anders war ein ziemlich kluger Mann und er war sensibel. Lustig war er und hilfsbereit, so dass alle Menschen ihn mochten. Aber weil jeder Mensch einen Fehler hat, hatte auch Anders einen: er konnte einfach nichts Böses behalten.
Kaum hatte er etwas von den Menschen gelernt, da vergaß er es schon wieder.
Die, die ihm etwas schuldeten, profitierten davon. Die ihm Übles getan hatten auch. Er vergaß es einfach und so war sein Verhältnis zu den Menschen stets ungetrübt. Und er musste sich auch nicht mühsam erinnern, weil er ja nichts Böses zu behalten hatte. Nur wunderte er sich manchmal, wenn Menschen ihm mit Misstrauen oder mit Vorsicht begegneten. Aber auch das vergaß er schnell wieder.
Trotzdem blieb ein Gefühl bei ihm, nicht so zu sein wie die anderen.
Und das machte ihn manchmal sehr, sehr traurig.
Eines Tages lernte er eine Frau kennen, die war nicht wie er. Sie behielt alles.
Vor allem das Schlechte. „Du kannst viel von mir lernen“, sagte sie. „Und Du von mir“,
dachte er. Aber er sagte es nicht, weil er ihr nicht wehtun wollte.
Von da an lernte er jeden Tag etwas Schlechtes behalten von seinen Mitmenschen.
Sein Leben wurde dunkler, weil er auch ihre Schattenseiten sah. Aber es wurde auch reicher, weil er seine Umgebung dazu brachte, ihre Schulden bei ihm zu begleichen. So fühlte er sich seltsam von anderen und von sich selbst beschenkt.
Die Frau an seiner Seite aber fühlte sich bestätigt. Und so behielt sie von jetzt an nur noch das Schlechte, um Anders zu zeigen: Jawohl, so bist du richtig, weil du so bist wie ich bin! Und wenn es zwischen ihnen etwas Böses gab, sagte sie: „ Siehst du, auch du bist böse wie all die anderen Menschen, die mir begegnet sind“. Da wurde Anders jedes Mal sehr traurig, weil er das Böse schon wieder vergessen hatte.
So ging das eine lange Weile und Anders fühlte sich immer schlechter. Zum Glück vergaß er von einem Tag zum nächsten wie schlecht es ihm am Vortag gegangen war. Aber die Frau an seiner Seite sagte es ihm. Und er glaubte ihr.
Da hatte Anders eines Tages einen Traum: Eine Frau mit leuchtenden Haaren erschien ihm, wie er eine Schönere noch nie gesehen hatte. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn weit zurück in seine Vergangenheit als sie noch gut war und hell. Von dort aus ließ sie ihn seine Gegenwart sehen und er sah die Wolken des Schlechten und den Nebel des Misstrauens.
Als er aufwachte, fror er und obwohl die Sonne draußen schon schien, wusste er, dass es nicht seine Sonne war, sondern die Sonne der Lichtmenschen. Noch einmal wollte er sich an ihr wärmen, weil er ihre Wärme zum Glück noch nicht ganz vergessen hatte. Aber die Sonne erreichte nur seine Haut, sein Herz blieb kalt. Und als er es fragte, blieb es stumm und klopfte nur hart.
Da ging er in die Stadt und besorgte sich ein langes Seil, das warf er hinauf auf einen Baum und zog sich daran hoch. An einem Ast befestigte er ein Ende des Seils, an seinem Hals das andere. So wollte er eine Verbindung herstellen zwischen sich und der Natur.
In diesem Moment schien die Sonne durch das lichte Blätterdach des Baumes und erwärmte das Seil um seinen Hals. Da wurde ihm dort sehr wohl und die Wärme stieg hinab in sein Herz. Das Blut seines Herzens aber strömte in seine Seele und so spürte er zum ersten Mal seit langem: Hoffnung. Und mit der Hoffnung kam auch der Gedanke an die Zukunft zurück, die auf einmal dasselbe war wie die Gegenwart. So nah war sie.
Und mit jedem Sonnenstrahl mehr spürte er die Zukunft, die jetzt wieder seine war!
Und nun wusste er auch, dass er sich trennen musste von den schwarzen Gedanken, die er gelernt hatte und die ihn immer wieder umfingen, weil er sich auf das Schlechte konzentrierte.
Und noch ein Gedanke war plötzlich in ihm mit solcher Macht, dass ihm sein Kopf zu zerspringen drohte: er wusste, warum er immer alles Schlechte vergessen musste, ganz plötzlich wusste er es! Das Schlechte und Dunkle hatte einfach keinen Platz in ihm, weil er ihm keinen Platz geben wollte!
Warm durchströmte es ihn und er war besessen von dem Gedanken, es allen Menschen zu erzählen. Dass sich sein Leiden gelohnt hatte und dass er nun am Ende seines Leidens war!
Mit einem Jubelschrei stand er auf und sprang mit einem Satz hinunter auf die Erde.
Als man Anders am nächsten Morgen mit einem Strick um den Hals, am Baum hängend fand, stand in seinem Gesicht grenzenloses Erstaunen.
(Für I., Weihnachten 1997)