Veröffentlicht: 26.04.2024. Rubrik: Unsortiert
Introvertiert
Auf dem langen Fußmarsch von der schleswig-holsteinischen Nordseeküste in die Überflutungsauen an der mittleren Elbe hatte ich ausreichend Gelegenheit zur Selbstreflexion. Hier erkannte ich, dass ich mich auf der Flucht befand. Aus einer flachen, menschenleeren Ebene mit unendlichem Horizont in eine ähnliche Gegend mit begrenztem Horizont. Dort am Ziel gibt es geringfügig mehr Bäume, Buschreihen oder Dörfer, die die Himmelslinie in diesem Landstrich unterbrechen. Und da sollte ich Balsam für meine Seele finden.
In der weiten Einöde der Küste hatte ich einige Jahre nach einem Zusammenbruch verbracht. Die erschien seinerzeit als geeignete Umgebung für meine Rekonvaleszenz, ich sehnte mich nach Einsamkeit. Das alles vor dem Hintergrund, ein stark introvertierter Mensch zu sein, der nur wenige, streng selektierte Sozialkontakte pflegt. Einer dieser Kontakte war in eine Ehe gemündet, die im weiteren Verlauf in ein erfolgreiches Unternehmen führte. Meine Ehefrau und ich gründeten eine Agentur für mentales Coaching: Sie performte nach außen, ich entwarf und steuerte als 'Spiritus Rector' aus dem Hintergrund die Konzepte, mit all meiner Fähigkeit zur Kontemplation - bis ich nicht mehr konnte. Das Geschäft mit dem unzulänglichen Seelenleben anderer Menschen überforderte mich, ich schwächelte, stürzte in eine Krise und verließ mein Umfeld ohne nähere Erklärung. Eine Neurose, sogar Autismus wurde mir nachgesagt. Es folgten Jahre an der fast menschenleeren Nordseeküste, bis mein Psychotherapeut mir eine Veränderung empfahl, welche die ultimative Lösung meiner Probleme sein könnte: Leben in einem Schweigekloster. Die für den Anfang dort angebotenen drei Tage des Schweigens erschienen mir jedoch zu wenig, und so suchte und fand ich eine klösterliche Einrichtung mit einer längeren Verweildauer.
Nun, nach der letzten Elbquerung in der Altmark, sah ich das Ziel meines Marsches: Ein mächtiges Backsteinkloster, das weithin sichtbar aus den Niederungen der Jerichower Auen aufragt. Vordergründig werden hier 'normale' klösterliche Geschäfte abgewickelt, aber ich konnte dort mein Vorhaben in einer separierten Einrichtung umsetzen. Dazu legte ich ein Schweigegelübde ab. Es tat mir unendlich gut, wochenlang gar nicht zu reden. Ich fand bald zu meiner ursprünglichen Tiefenentspannung zurück. Daraus entsprang der Wunsch nach mehr 'Askese light', ich trat als festes Mitglied in die Klostergemeinschaft ein. Und schon hatte ich ein Problem, ich beherrschte nichts beruflich Relevantes, rein gar nichts hier Verwertbares. Dennoch, ich durfte bleiben, als Mitarbeiter des großen Gartenbaubetriebs. Aufgrund meines fehlenden Geschicks für Hege und Pflege von Nutzpflanzen fand ich in der Unkrautvernichtung meine Erfüllung. Auf diesem Gebiet war ich richtig gut. Besonders bei der Beseitigung des extrem lästigen und hartnäckigen Krauts Giersch leistete ich Erstaunliches.
Man sah mich tagtäglich viele Stunden in kniender Haltung den Boden aufbrechen und die feinen Verwurzelungen daraus akribisch entfernen; ich hatte der Nacktschnecke unter den Kräutern den Kampf angesagt. Unzählige, hoch aufgeworfene Hügel und Wälle mit von mir durchwühlter Muttererde bestimmten bald das Bild der klösterlichen Gartenlandschaft; anschaulich belegt auf einer Animation bei Google Earth. Der Einsatz von Herbiziden war ein Tabu. Angeblich gierschophobe Beipflanzungen hatten keinerlei Effekt. Auch das Abdecken der von mir freigelegten Erdflächen führte zu keinem dauerhaften Erfolg, den ich mir so sehr wünschte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mehrmals jährlich die ununterbrochen nachwachsenden Rhizomgeflechte der Gierschpflanzen wieder und wieder zu vernichten, Quadratdezimeter um Quadratdezimeter – eine brutal eintönige Tätigkeit. Doch daraus entwickelte ich im Laufe der Jahre eine einzigartige Methode der Meditation. Im Kreise meiner Ordensbrüder wurde ich auf diese Art derjenige mit der höchstentwickelten Fähigkeit zur inneren Einkehr.