Veröffentlicht: 28.03.2024. Rubrik: Unsortiert
Lebenslüge
Wer sich in seiner Lebensmitte uneingeschränkt wohlfühlt, ist zu beneiden. Ich lebe in solch einer glücklichen Situation und genieße mein Leben in vollen Zügen. Und dieses findet in einer Umgebung statt, die seit frühen Jugendjahren meinen absoluten Sehnsuchtsort darstellt, fernab von meinem angestammten Herkunftsland Deutschland. Es ist ein Ort im äußersten Süden Festlandamerikas, die chilenische Stadt Punta Arenas an der Magellanstraße, in Sichtweite zur letzten bewohnten Region vor der Antarktis, der Insel Feuerland. Bei diesem Lebensmittelpunkt wird die Zahl der Neider vermutlich sehr viel geringer, denn es gibt kaum eine Region auf unserem Planeten, die wechselhafteres Wetter aufweist, bei dem nur eins beständig ist, die Unbeständigkeit. Zeitweilig erlebt man hier alle vier Jahreszeiten an einem Tag. Dieses mag ich sehr. Der Höhepunkt dieses klimatischen Genusses ist jedoch der Wind, der hier allgegenwärtig in beachtlicher Stärke weht. Wind gäbe es auch in Europa, aber solch einen eben nicht, den kann man hier nicht nur fühlen, man kann ihn förmlich riechen, und ich meine, er hat sogar einen eigenen Geschmack. Dies alles in Verbindung mit einer mich stark inspirierenden Landschaft, mit einer Weite, die meine Seele streichelt.
In solch einer perfekten Umgebung spielt sich aktuell mein privat wie beruflich erfülltes Leben ab. Dieses wird getragen von einer kaum zu übertreffenden familiären Situation, mit einer wunderbaren Frau an meiner Seite, sowie zwei ebensolchen Kindern. Dies ist die Quelle meines glücklichen Daseins, aus der ich schöpfen kann, wenn ich abends von meiner beruflichen Tätigkeit heimkehre, die mich ebenfalls erfüllt, die Position des Präses der Deutsch-Chilenischen Handelskammer hier vor Ort. Bei aller Bescheidenheit, für eine solche Stellung gäbe es kaum einen Besseren als mich. Das schwer Erklärbare daran, ich bin erst seit knapp zwölf Jahren hier im Lande und bin in überzeugender Weise meinen Weg gegangen. Aber für diesen strahlenden Teil meiner Vita muss ich einen Preis zahlen, von dem niemand außer mir etwas weiß. Ich habe hier im Lande die frühere Zeit meines Lebens nach außen hin stets ausgeklammert und lebe mit Verdrängung, bei gezielten Nachfragen auch mit Lügen. Der Gedanke, mir mein heutiges Wohlergehen auf Kosten eines anderen Menschen erkauft zu haben, belastet mich neuerdings stark. So breche ich phasenweise aus und tausche mein Idyll dann für einige Tage gegen ein Leben in der einsamen Wildnis. Dies hilft. Leider nicht dauerhaft.
Mit Schwermut denke ich dabei an mein früheres Leben. Damals schien auch alles zu passen. Ein Familienleben wie im Bilderbuch, eine erfüllende berufliche Situation. Kaum zu glauben, aber ich bin seinerzeit an einem Zuviel an Empathie gescheitert, am Leben mit einer Ehefrau, die nie etwas Negatives tat oder auch nur dachte, die mich mich mit ihrem wohlwollenden Wesen zudeckte. Selbst meine gelegentlichen Ausbrüche führten nicht aus dem Kokon, aus einem Leben wie in Watte gepackt - weich aber erdrückend. Niemand mochte ihr wehtun. Diesen Menschen zu kränken, zog automatisch ein schlechtes Gewissen nach sich. Für ein Gespräch über Konflikte oder Veränderung, oder gar eine Trennung, gab es nie einen passenden Zeitpunkt. Dann konnte ich es nicht mehr, ein Leben zu führen, begleitet von dem ewigen Sound des Guten. Meiner Frau direkt zu sagen, ich verlasse dich, brachte ich nicht fertig, ich würde den Anblick ihres traurigen Blicks nicht ertragen können. So wählte ich eine Variante der harten Art. Ich stahl mich davon. Klammheimlich. Vor der Rückreise aus einem gemeinsamen Urlaub. Mit einer Ausrede verpasste ich den Check-In und blieb zurück. Zunächst mit einem extrem schlechten Gewissen. Dieses legte sich später in meiner neuen Umgebung. Meine Beweggründe für diesen Neuanfang habe ich bis heute verschwiegen, ich werde es weiter tun. Ich werde mit einer Lüge leben