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geschrieben 2023 von Christelle (Christelle).
Veröffentlicht: 25.04.2024. Rubrik: Nachdenkliches


Hildegards Streben

Hildegard, 1926 in Gelsenkirchen geboren, war nicht dumm. Sie hatte Lehrerin werden wollen, doch das war in den 1930er Jahren nicht möglich. Denn ihre Familie konnte das Schulgeld, das damals für den Besuch eines Gymnasiums gezahlt werden musste, nicht aufbringen. So wurde sie Lebensmittelverkäuferin, und zwar in der Firma Deutschhandel, die mehrere Filialen unterhielt. Sie schaffte es, zur Filialleiterin aufzusteigen.

In der schlechten Zeit nach dem Krieg, als der Bevölkerung Lebensmittelmarken zugeteilt wurden, hatte sie als Filialleiterin manchmal die Möglichkeit, zusätzlich etwas Essbares abzuzweigen und mit nach Hause zu nehmen. Das verbesserte einerseits die Ernährungssituation der großen Familie bestehend aus Eltern und zwei älteren Schwestern, andererseits führte es dazu, dass Hildegard in der Familie das Sagen hatte. Sie verstand es, alle für ihre Zwecke einzuspannen. So brachte sie zum Beispiel die Lebensmittelmarken, die in ihrer Filiale eingenommen wurden, mit nach Hause und ließ sie von den Familienmitgliedern auf dafür vorgesehene Papierbögen kleben.

Ihren späteren Ehemann lernte sie in der Filiale kennen, er war Verkaufsfahrer einer großen Bäckerei und lieferte das tägliche Brot, das in den Filialen von Deutschhandel verkauft wurde. Eigentlich trauerte Hildegard noch ein bisschen um Heinrich, den smarten Bruder ihrer Schulfreundin Helene. Es hätte was werden können zwischen Hildegard und dem gescheiten und lebenslustigen jungen Studenten, dem es leider nicht vergönnt war, seine Lebenslust auszuleben, denn 1944 zog er in Hitlers Krieg und kam nicht mehr zurück.

Reinhold, der Brotlieferant, war im Vergleich zu Heinrich, dem Studenten der Rechtswissenschaft, etwas dümmlich, das merkte sie ziemlich schnell. Aber es gab nach dem Krieg kaum ledige Männer im heiratsfähigen Alter, viele waren gefallen.

Als Reinhold 1947 in ihr Leben trat, war sie 21 Jahre alt. Zwei Jahre später heiratete sie ihn, denn Hildegard glaubte - wie viele Leute damals - , dass ein Mädchen frühzeitig „unter der Haube“ sein sollte.

Diese Einstellung stand eigentlich im Gegensatz zu ihrem Traumberuf, denn bis 1951 galt in Deutschland das 1880 eingeführte „Lehrerinnen-Zölibat“, das hieß, Lehrerinnen konnte, wenn sie heirateten, der Beamtenstatus aberkannt und ihre Stelle gekündigt werden, wenn sie durch das Einkommen des Ehemanns wirtschaftlich versorgt waren.
Im Grunde war das Lehrerinnen-Zölibat seit seiner Einführung im Jahre 1880 ein arbeitsmarktpolitisches Instrument. Wenn „Not am Mann“ war, wurde diese Verordnung gelockert, andererseits streng befolgt, wenn man die Frauen als Konkurrenz zur männlichen Lehrerschaft sah.

Ihren Job als Filialleiterin bei Deutschhandel hängte sie jedoch gleich zu Beginn ihrer Ehe freiwillig an den Nagel.

Nach wie vor war Erfolg und Aufstieg im Beruf sehr wichtig für sie, so haderte sie damit, dass ihr Ehemann nichts anderes tat, als Brot in Lebensmittelgeschäfte zu liefern. Dafür konnte man ihrer Meinung nach so dumm wie das Brot selber sein, und das war ihr zu wenig.

Sie überredete ihren Mann, sich selbstständig zu machen, so wurde er freier Handelsvertreter für die Firma Holzschnitt, die Holzbearbeitungsmaschinen herstellte. Sie kauften ein Auto und Reinholds Aufgabe bestand von nun an darin, diese Holzbearbeitungsmaschinen an Schreinereien zu verkaufen. Das war überhaupt nicht sein Ding, so dass Hildegard ihn anfangs bei seinen Kundenbesuchen begleitete, ihm gute Tipps gab, wie er seine Verkaufsgespräche zu führen hatte, und sich so manches Mal auch selbst einmischte.

Irgendwann kehrte auch bei Reinhold Routine ein. Die Schreiner kannten ihn mittlerweile und er konnte auch mit der Annahme von Wartungsarbeiten oder Reparaturaufträgen Geld verdienen. Er verdiente nicht schlecht und Hildegard war vorerst zufrieden.

Da er selbstständig war, musste Reinhold sich und seine Frau privat gegen Krankheit versichern, eigentlich hätte er auch für sein Auskommen im Alter vorsorgen müssen, tat er aber nicht, so dass ihm mehr Geld zur Verfügung stand als vergleichbaren Arbeitnehmern, denen die Beiträge zur Rentenversicherung direkt vom Lohn abgezogen wurden. Damit legte er den Grundstein für seine Armut im Alter, aber das wusste er (noch) nicht.

Es dauerte nicht lange, bis Reinhold und Hildegard ein Haus in dörflicher Umgebung ihr eigen nannten. Nun fühlten sie sich privilegiert gegenüber ihren Geschwistern, denn sie waren die einzigen in der Verwandtschaft, die in den 50er Jahren bereits ein eigenes Haus und ein Auto besaßen.

1966 , also mit 40 Jahren, brachte Hildegard nach mehreren Fehlgeburten endlich den heiß ersehnten Sohn und Erben zur Welt. Er wurde Thomas genannt. Hildegard vergötterte ihn und projizierte alles, was sie selbst hätte erreichen wollen, auf ihren Sohn. Für sie stand fest, dass er einmal studieren werde. Doch Thomas hatte wenig Interesse an einem Studium.

Er zeigte mehr handwerkliches Geschick. Er war ein lieber und netter Junge, aber das ständige Drängen seiner Mutter, er müsse bessere Noten aus der Schule nach Hause bringen, machte ihn regelrecht aggressiv. Er selbst wollte nicht auf’s Gymnasium, aber Hildegard bestand darauf, mit dem Ergebnis, dass er nach einem Jahr wegen unzureichender Leistungen wieder auf die Hauptschule zurückkehrte.

Nach seinem Hauptschulabschluss nahm er einen Ausbildungsplatz als Elektriker an. Hildegard wollte das nicht wahrhaben und erzählte den Verwandten und Bekannten, ihr Sohn bereite sich auf das Fachabitur Elektrotechnik vor.

Dass Thomas zuerst die Gesellenprüfung und ein paar Jahre später die Meisterprüfung mit Bravour bestand und beruflich nicht nur erfolgreich, sondern auch sehr zufrieden war, erlebte sie nicht mehr.

Eine bösartige Krebserkrankung raffte sie dahin - vielleicht aus Gram darüber, dass ihr Sohn nicht nach ihrer Fasson leben wollte. Schließlich war sie es gewohnt, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Bad Letters am 25.04.2024:
Kommentar gern gelesen.
Ein interessanter und vielschichtiger Lebenslauf, Christelle! Lässt mich mit dem Gefühl zurück, das Hildegard das Pech hatte, in der falschen Zeit geboren zu werden.

MfG
Bad Letters





geschrieben von Christelle am 26.04.2024:

Das war bestimmt der Fall, Bad Letters, Hildegard war ein Opfer ihrer Zeit,
ich wollte aber mit dieser Geschichte auch zeigen, dass es nicht immer eines Studiums bedarf, um im Beruf erfolgreich und glücklich zu werden. Thomas hat sich schon früh für das Handwerkliche interessiert. Er wäre auf dem Gymnasium bestimmt nicht zufrieden gewesen. Für seine Mutter zählte nur ein Universitätsstudium und der „schöne Schein“. Sonst hätte sie den Leuten erzählt, dass er eine Ausbildung als Elektriker macht (und sich nicht auf das Fachabitur Elektrotechnik vorbereitet). LG Christelle

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