Veröffentlicht: 26.11.2023. Rubrik: Aktionen
Die Wahrheit über Dornröschen
Kapitel 1
Die Menschen in Rosanien hatten ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem auf dem Rosenberg gelegenen verwunschenen Schloss.
Niemand traute sich dort hinauf, seit vor mehr als 100 Jahren eine böse Fee die neugeborene Tochter des Königs mit einem Fluch belegte, der zum 16. Geburtstag des Mädchens wirksam wurde und die junge Prinzessin in einen hundertjährigen Schlaf versetzte. Gleichzeitig legte sie den gesamten Hofstaat lahm, indem alle in der Tätigkeit verharrten, die sie gerade ausübten. Auch der König und die Königin saßen wie in Stein gemeißelt auf ihrem Thron.
Im Königshaus arbeiten zu dürfen, war damals ein Privileg, doch an dem Tag, als die böse Fee das Schloss verfluchte, waren die Menschen in Rosanien
froh, im Dorf oder auf dem Feld tätig zu sein, sonst ständen sie auch dort oben als Steinfiguren.
Die damaligen Bewohner erzählten diese Geschichte ihren Kindern und Kindeskindern, so dass dieses Ereignis allen stets präsent war. Die zahlreichen Rosenbüsche rund um das Schloss auf dem Rosenberg konnten ungestört wachsen, weil kein Mensch sich dort aufhielt. Keine Rose wurde gepflückt, kein Ast gebrochen, kein Busch ausgegraben. So war bald das ganze Schloss mit dem dornigen Gestrüpp überwuchert.
Die nachkommenden Generationen warteten teils ängstlich, teils neugierig darauf, was am Ende der 100 Jahre passieren würde. Es müsste bald so weit sein, doch niemand kannte das genaue Datum.
Eines Tages kam Kuno, ein junger Edelmann nach Rosanien. Er hatte eine militärische Ausbildung absolviert, konnte reiten wie der Teufel, war sehr wendig beim Fechten, konnte gut mit Pfeil und Bogen umgehen und war genauso geschickt mit Schwert und Säbel. Er suchte einen Unterschlupf für die Nacht. Sein Pferd war erschöpft und musste versorgt werden.
Er kam unter bei einem redseligen alten Ehepaar, das ihm diese sensationelle Geschichte erzählte, denn andere Sensationen hatte Rosanien nicht zu bieten.
Kuno war fasziniert von der schlafenden Prinzessin im Schloss. Er nahm sich vor, sie am nächsten Tag zu wecken.
Als die Sonne aufging, machte er sich zu Fuß auf den Weg zum Rosenberg. Zunächst kam er gut voran, doch dann wurde das Gestrüpp immer dichter und dorniger, der Pfad immer steiler.
Kapitel 2
Die gute Fee war noch jung, etwa 300 Jahre alt. Wäre sie ein menschliches Wesen, würde man sie einen Teenager nennen, denn das Alter von Feen wird anders berechnet als das der Menschen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn vor mehr als 100 Jahren hatte sie aus verletzter Eitelkeit einen schrecklichen Fehler begangen, den sie zutiefst bereute.
Damals wurden zur Taufe der neugeborenen Prinzessin die 12 älteren Feen eingeladen. Sie war fast noch ein Kind und es gab keinen 13. Teller für sie. Das machte sie unendlich wütend, so dass sie die kleine Prinzessin verfluchte. Dieser Fluch sollte zum 16. Geburtstag des Kindes wirksam werden. So geschah es auch. Das brachte ihr den Ruf als böse Fee ein, was sie tief in ihrem Herzen verletzte. Sie war nicht böse, sondern damals nur zu eitel.
Jetzt würde die Prinzessin bald aufwachen und einen furchtbaren Schrecken bekommen, wenn sie sich im Spiegel sah. Sie war jetzt 116 Jahre alt und sie hatte den langsamen natürlichen Alterungsprozess verschlafen. Ihre Muskeln dürften total schlaff sein, da sie 100 Jahre nicht aktiv war. Die gute Fee konnte das nicht ändern, erst müsste die Prinzessin wachgeküsst werden. Dann wäre sie, die gute Fee, in der Lage, den Fluch aufzuheben. In den letzten 100 Jahren hatte kein Mann versucht, ins Schloss zu gelangen. Zu groß war die Angst, als versteinerte Statue dort oben bleiben zu müssen. Doch dann entdeckte sie Kuno, der inzwischen das dichte dornige Gestrüpp erreicht hatte.
Kapitel 3
Die gute Fee wünschte sich sehr, der junge Mann würde es schaffen, ins Schlafgemach der Prinzessin vorzudringen. Sie wollte ihn dabei unterstützen und sie tat, was in ihrer Macht stand. Zunächst machte sie das struppige harte Gehölz etwas weicher.
Kuno wunderte sich, wie leicht sich die dornigen Büsche auseinanderschieben ließen. Er hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Auch dicke Äste, die im Weg waren, konnte er mühelos mit dem Säbel durchtrennen. Auch kam ihm der Weg zum Schloss nicht mehr so steil vor. Oben angekommen sah er überall die versteinerten Figuren stehen. Er hatte kein Problem, die Eingangstür des Palastes zu öffnen. Auch hier standen oder saßen versteinerte Menschen.
Im Prunksaal saß das Königliche Paar auf dem Thron. Doch Kuno wollte zuerst die Prinzessin finden.
Die gute Fee wurde immer aufgeregter. Einen Zauber musste sie noch vollenden, ehe er das Schlafgemach der Prinzessin betrat. Er sollte mit dem Herzen sehen.
Als Kuno die schlafende Prinzessin sah, küsste er sie auf den Mund. Sie schlug die Augen auf und lächelte ihn an.
Die gute Fee war erleichtert. Nicht auszudenken, wenn der letzte Zauber nicht rechtzeitig geklappt hätte und der junge Mann hätte die 116 Jahre alte Frau vorgefunden.
Kapitel 4
Es war, als hätten sie sich schon immer gekannt, so vertraut waren sie miteinander: Dornröschen und der junge Edelmann. Kuno hatte sie durch seinen Kuss vom Fluch befreit. Das hieß, sie war wieder das unbeschwerte 16-jährige Mädchen von damals. Ihr Leben ging übergangslos dort weiter, wo es damals aufgehört hatte. Auch das Personal wurde aus seiner versteinerten Haltung erlöst und Dornröschen hatte für alle ein nettes Wort, machte sie mit Kuno bekannt.
Im Prunksaal waren auch Dornröschens Eltern, das Königspaar, inzwischen erwacht. Sie trauten zunächst ihren Augen und Ohren nicht, als Kuno um Dornröschens Hand anhielt. Unsere Kleine will heiraten, dachten sie wehmütig, dabei wurde sie gerade erst getauft!
Die kleine gute Fee war zufrieden, denn sie hatte ihren Fehler wieder gut gemacht. Ihre 12 älteren Schwestern, die weisen Feen, die seinerzeit zur Taufe eingeladen waren, meinten, dass Dornröschen und Kuno außergewöhnlich gut zueinander passten, sie sich aber ohne den Streich ihrer kleinen Schwester nie kennengelernt hätten.
Der Altersunterschied war einfach zu groß!