Veröffentlicht: 16.12.2023. Rubrik: Unsortiert
Rabenmutter
Ich dachte an gestern. Es ging hoch her. Ich, die ganz selten alkoholische Getränke konsumierte, ließ sich überreden, den „Aufgesetzten“ zu probieren.
„Aufgesetzten“ herzustellen, war Bernhards Leidenschaft: Weißer Kandis und Beeren wurden mit Branntwein in einer Flasche aufgesetzt, die dann anfangs alle paar Tage geschüttelt werden musste, um den Extraktionsprozess zu beschleunigen. Der Alkohol im Branntwein löst dann die Aromastoffe heraus. Die Flaschen bleiben meist mehrere Wochen stehen, bis die festen Bestandteile herausgefiltert werden. Dann ist der Schnaps trinkbereit.
Bernhard erntete jedes Jahr sehr viele Beeren in seinem Garten. Er benötigte einen Großteil für seine Schnapsproduktion, trotzdem blieb immer noch genug für die Familie und deren Freunde zum Naschen oder zum Kuchen backen.
In diesem Jahr gab es zu Bernhards Freude besonders viele rote Johannisbeeren, die manchem Zeitgenossen zum Naschen zu sauer waren. Umso mehr Flaschen vom Aufgesetzten produzierte Bernhard. Und die wurden gestern verkostet.
Am nächsten Morgen:
Als ich aufwachte, wusste ich nicht wo ich war.
Mein Kopf fühlte sich schwer an. Ich schaffte es kaum, die Augen zu öffnen, alles flimmerte im grellen Sonnenlicht, das durchs geöffnete Fenster drang, „Nein, das kann nicht mein Zuhause sein, bin ich etwa noch in Bernhards Wohnung?“ dachte ich verwirrt.
Dann erkannte ich die Bilder an der Wand. Also doch, ich wusste es. Es war unsere Wohnung, doch sie war irgendwie anders.
Es war ungewohnt still, ich vermisste das Schnarchen meines Mannes, der normalerweise neben mir lag, wenn ich morgens aufwachte. Doch er war wohl schon aufgestanden. Auch das Gebrabbel meiner acht Monate alten Tochter war nicht zu hören. Ich schaute auf die Uhr. Es war fast 11 Uhr. So lange hatte ich geschlafen? Ich erschrak, denn ich hatte meine Tochter noch nicht versorgt.
Wie konnte ich sie nur so vernachlässigen? Meine süße kleine Ursula!
Ich stürzte - plötzlich hellwach – nach nebenan, wo ihr Bettchen stand. Es war leer. Panik überkam mich.
Sie konnte unmöglich allein aus ihrem Bett gekrabbelt sein und sich auf Nahrungssuche begeben haben. Ich schaute in alle Zimmer, fand aber weder meinen Mann noch mein Kind. Auch fehlte der Kinderwagen, was mich nicht froher stimmte.
Ich vermutete, dass mein Mann mit meiner weinenden Tochter spazieren ging, um sie von vollen Windeln und leerem Fläschchen abzulenken. Er hatte beides noch nie gemacht, weder eine Windel gewechselt noch die Babynahrung zubereitet. So etwas durfte nie wieder passieren . Ich lief eilig nach draußen, um die beiden zu finden.
Ich musste nicht lange suchen, denn im Hof fand ich drei auf einer Sitzbank: Meinen Mann und meine Schwiegermutter, die im Haus nebenan wohnte. Sie hielt Ursula im Arm und tätschelte sie zärtlich. Und Ursula lachte mich fröhlich an.
Meine Schwiegermutter hatte morgens das Kind gebadet, gewickelt und gefüttert. Sie hatte alle Aufgaben erledigt, die meine gewesen wären. Ich war ihr unendlich dankbar, schämte mich aber, solch eine Rabenmutter zu sein.
„Dem verdammten Alkohol werde ich von nun an entsagen“, verkündete ich. Daran halte ich mich noch immer - bis auf eine Ausnahme - und das ist Silvester. Zur Begrüßung des neuen Jahres trinke ich mit meiner Familie ein Gläschen Sekt.
Dabei denke ich an meine kleine Ursula und frage mich, was aus ihr geworden wäre, wenn sich die Oma nicht gekümmert hätte.