Veröffentlicht: 02.02.2024. Rubrik: Unsortiert
Träumen erlaubt
Er wollte frei sein, frei wie die Vögel am Himmel, die er so gern beobachtete. Er stellte es sich wunderschön vor, gemächlich durch die Lüfte zu schweben. Er hatte es schon mehrfach versucht - heimlich, wenn niemand - und schon gar nicht seine Frau - in der Nähe war, denn er wollte sich nicht zum Gespött der Leute machen. Doch es gelang ihm nicht abzuheben.
Vielleicht sollte ich es mal von einem höher gelegenen Standpunkt aus versuchen, dachte er. So kletterte er auf das Dach seines Hauses und breitete die Arme aus. Dann schwang er sich in die Luft. Er versuchte gleichzeitig, seine Arme wie Flügel zu bewegen, doch es nützte nichts. Er plumpste zu Boden. Es tat überhaupt nicht weh, so dass er glaubte, ein kleines Stück der Schwerkraft überwunden zu haben. Sonst wäre er doch nicht so weich auf dem Boden gelandet, oder?
Motiviert versuchte er es noch einmal. Wieder kam er nicht gegen die Schwerkraft an und landete weich auf dem Hosenboden. Er blieb eine Weile etwas benommen dort sitzen. Dann überlegte er, was er noch tun könne, um sein Ziel zu erreichen.
Er musste einfach noch höher hinaus, das höchste Gebäude im Dorf war der Kirchturm. Nicht zu vergleichen mit den Wolkenkratzern in New York. Doch ehe er eine solch weite Reise unternahm, wollte er es erst einmal mit dem Kirchturm versuchen.
Die Idee war geboren, also musste es sofort sein, und er machte sich auf den Weg zur Kirche, nicht ohne vorher seinen Kittel mit weiten Flatterärmeln überzuziehen. Er hatte Glück, die Tür zum Turm war nicht verriegelt, und es waren weder der Küster noch der Pfarrer zu sehen.
Langsam stieg er die schmale Wendeltreppe mit ihren 215 Stufen bis zur Spitze hinauf. Oben angekommen war es ihm doch recht mulmig zumute, als er hinuntersah. „Ich will ja nicht springen, sondern fliegen“, beruhigte er sich selbst. Seine Flatterärmel würden ihn bestimmt durch die Luft gleiten lassen. Also, Augen zu und durch…….
Er spürte, dass er nicht glitt, sondern senkrecht hinunterstürzte. Experiment misslungen, dachte er, aber er verließ sich darauf, dass er weich auf dem Boden landete, wie es ja auch beim Sprung (sorry: Flugversuch) vom Dach seines Hauses der Fall war. Doch diesmal schlug er hart auf den steinernen Boden auf. Er hörte das Tatü-Tata eines Notarztwagens. Er wunderte sich, dass die Sanitäter so schnell vor Ort waren.
Dann bemerkte er, dass es seine Frau war, die ihn wachrüttelte. „Steh endlich auf, es ist schon 10:00 Uhr und die Sonne scheint!“, sagte sie etwas ungeduldig.
„Wo ist der Krankenwagen?“ fragte er verwirrt.
„Wieso brauchst du einen Krankenwagen?“ Ihre Stimme klang spöttisch. „Aber hier ist gerade einer mit Tatü-Tata vorbeigefahren, vielleicht hast du den im Schlaf gehört“, fügte sie versöhnlicher hinzu.
Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Er hatte das alles nur geträumt. Klar, er hatte oft schon die Vögel beobachtet, und heute Morgen hatte er sie sehr früh vor seinem Fenster zwitschern hören, bevor er wieder einschlief.
Er erinnerte sich gut an diesen Traum - das war nicht immer der Fall - und erzählte ihn seiner Frau.
„Die Vögel haben dich also in den Schlaf gesungen“, sagte sie belustigt, „und dann hast du ein solches Abenteuer erlebt?“
Nachdenklich sah sie ihn an. „Warum auch nicht, schließlich ist Träumen erlaubt.“