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2xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 08.01.2024. Rubrik: Unsortiert


Mein Tränenparadies

Über Nacht hatte Tauwetter eingesetzt; immer mehr Tropfen fielen aus den schneelastig gebeugten Büschen und Bäumen, und mir schien, als weinten sie.
Wer sagt denn, dass Bäume und Büsche nicht weinen können? Ich meine jetzt nicht Bernstein und andere Harzgebilde, die oft als Tränen bezeichnet werden; die sind nicht wirklich geweint, sondern ausgeschwitzt. Ich meine echte Tränen aus Kummer und Tau, die sie ausscheiden, wenn ihre Seelen betrübt sind. Und dass sie Seelen haben ist für mich als Naturwissenschaftler so sicher wie nur irgendetwas. Wenn sie gut drauf sind, kann man diese Seelen manchmal sogar riechen. Etwa als betörenden Duft frisch erblühter Linden oder des Ahorns; oder den herb-männlichen Geruch alten Eichenholzes.
Natürlich sind es keine Geist-Seelen, wie wir Menschen sie besitzen, denn die sind geruchlos. Es ist der Hauch des Alten Mondes, der sie umgibt, diese unstoffliche Substanz, die das Wesentliche aller Lebewesen mit den Sternen verbindet. Gleichwohl: Wenn sie Seelen haben, können sie auch Tränen vergießen.
Und dann die Tiere …
Eine Bekannte berichtete, ihr Pferd sei plötzlich stehen geblieben und habe angefangen zu weinen. Dicke blanke Tränen seien aus seinen Augen geflossen.
Grund genug hatte es ja, das Pferd. Was hat der Mensch den Pferden nicht schon alles angetan, über Jahrhunderte hinweg. Als Arbeitstiere verschlissen oder in sinnlosen Kriegen abgeschlachtet. Auch Kamele, diese geduldigen Lastenträger der Wüsten, können weinen, wie ich neulich in einem Film sah.
Und dann das Schlachtvieh. Hat es je eine ernst zu nehmende Untersuchung gegeben, ob Schweine, bevor sie der Bolzen trifft, weinen? Mir ist keine bekannt. Dabei wird doch alles Mögliche untersucht, zum Beispiel Mondgestein oder Tiefeneis vom Nordpol; was dabei herauskommt, macht die Welt bestimmt nicht besser.
Ich bin überzeugt, sie weinen. Marlene, meine Hündin, kann es ja auch. Je älter sie wird, desto öfter ist ihr Blick verschleiert von Nässe. An mir liegt es nicht, ich behandle sie gut. Vielleicht nimmt sie ja mit ihrem übersinnlichen Gehör das stumme Schreien der gequälten Tierheit wahr.
Und dann, vor allem, die Tränen der Menschen, die Tag und Nacht geweint werden. Etwa von kleinen Kindern, die versalztes Grundwasser trinken müssen und vor Juckreiz nicht schlafen können. Oder … nun ja, es gibt tausend Gründe, warum Menschen weinen, und ihre Anzahl nimmt beständig zu, denn Kriege und andere Katastrophen finden kein Ende.

Jetzt fing es auch noch an zu regnen; dicke, schwere Tropfen fielen in die Fluten des Flusses und erzeugten unzählige tanzende Ringe. Es war sehr viel Wasser unterwegs; schon der Herbst war außerordentlich nass gewesen, und ein Ende des Regenwetters war nicht in Sicht. Auf einmal verstand ich, warum es nicht aufhören wollte zu regnen: Es war das Übermaß an Tränen, die da aus den Wolken fielen, ein ganzer Ozean von Tränen; Millionen und Abermillionen Tränen, die geweint, verdunstet, dann als Wasserdampf aufgestiegen waren seit unzähligen Jahren, und die jetzt wieder herabfielen, denn die Fassungskraft der Atmosphäre ist erschöpft.
Mir ist schon lange klar, dass das, was die Experten in puncto Zunahme der Niederschlagsmengen erzählen, so nicht stimmen kann.

Am fernen Horizont brach die untergehende Sonne hervor und überhauchte die überschwemmten Wiesen und Felder mit ihrem beglückendem Schein. Ja, dachte ich, die Welt könnte ein Paradies sein. Jetzt ist sie nur ein Tränenparadies.
2024

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Jens Richter am 09.01.2024:

Hallo Federteufel,
ich bin auch für Tierwohl, aber so wie Du das Leid der Tiere dargestellt hast auf ihrem Weg zur Schlachtbank, hat mich tief ergriffen.
Da bleibt ja nur noch der Verzehr von Wild übrig, welches der Jäger vom Hochstand aus, erlegt hat.
Deinen Text habe ich sehr gern gelesen.
Viele Grüße, Jens

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