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geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 18.10.2023. Rubrik: Unsortiert


Kai

„Kai, du bist jetzt in einem Alter, in dem man darüber reden sollte."
Wagner war sich bewusst, dass diese Eröffnung kein Meisterstück war. Deshalb fügte er noch schnell hinzu: „Sozusagen von Mann zu Mann.“
Kai blickte seinen Vater aufs höchste alarmiert an. „Ist etwas mit dir und Mama?“, stieß er hervor.
„Nein, natürlich nicht! Wie kommst du darauf?“
Der Knabe atmete erleichtert auf. „Ach, nur so.“
„Was ich sagen wollte ist dies: Seit einiger Zeit machen sich deine Mutter und ich Sorgen wegen –“
„Du meinst Sex?“ Kai winkte lässig ab. „Deswegen braucht ihr euch keine grauen Haare wachsen lassen. Ich habe alles sehr gut im Griff!“
„Wie meinst du das?“
Kai verzog das Gesicht zu einem vieldeutigen Grinsen. „Über die Pubertät wird viel Blödsinn erzählt. Nicht jeder Jüngling mit Pickeln im Gesicht ist gleich ein Sexualkobold und denkt nur noch an das eine. An mir zum Beispiel geht sie vorüber, und, soweit ich es erkennen kann, anscheinend ohne viel Verwirrung zu stiften. Nun ja, ganz aus dem Schneider bin ich wohl noch nicht, aber ich finde mich allmählich zurecht. Außerdem haben mir meine Experimente gezeigt, dass ich dergleichen Irritationen ohne große Mühe unterdrücken kann, denn alles Funktionale lässt sich mit einiger Übung mehr oder weniger leicht beherrschen.
Allerdings frage ich mich manchmal, ob ich noch normal bin“, sprudelte Kai weiter. „Wenn ich mich so mit einigen meiner Klassenkameraden vergleiche. Manche schauen sich Freeporns auf ihren Handys an! Mit fünfzehn! Und du glaubst nicht, was sie sich da anschauen! Junge Mädchen, die es mit Schäferhunden treiben!.Es ist unglaublich ekelhaft. Die Wucht des Geschlechtlichen hat sie voll erfasst und saugt ihnen das Mark aus den Knochen."
Wagner brauste auf. „Das ist ja unfassbar! Wer macht denn so etwas?“
„Du verlangst doch jetzt nicht, dass ich Namen nenne!“
Betretenes Schweigen. Im Zimmer war es still; sie hörten nur ihre eigenen Atemzüge.
Wagner endlich: „Darf ich bescheiden fragen: Hast du einen Freund oder eine Freundin?“
Der Junge schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, leider nicht. Das ist es ja eben ... Ich weiß, da läuft einiges schief ... Aber andererseits ... Worüber könnte ich mich mit denen schon unterhalten? Die tippen doch den ganzen Tag mit einem Finger auf ihren Handys herum und vergessen die übrigen neun! Das ist doch gaga! Und merken gar nicht, wie ihnen dabei das Hirn ausläuft! Es ist eine Art mentaler Masochismus, an dessen Ende die totale Verdummung steht. Der Mensch denkt zwar mit dem Kopf, aber er begreift mit den Fingern! Du kannst ihnen fünfmal erklären, dass 0 plus 0 plus 0 plus 0 immer noch Null ergibt – und trotzdem halten sie alle fünf Finger hoch.“
Kai fuchtelte mit den Händen, als deklamiere er ein Gedicht. Es waren fahrige, unzusammenhängende Bewegungen. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er beugte sich vor, sah seinen Vater an und rief fast beschwörend: „Weißt du, Vater, die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist mit der Entwicklung der Hand mit ihren zehn Fingern verknüpft. Wenn du von kleinauf nur noch einen Finger gebrauchst, setzt du deinen Gehirn auf Diät! Und dann wundern sich manche Nerds, dass diese Einfingergeneration einen Mann wie Donald Trump möglicherweise wieder zum Präsidenten wählt!“
„Du urteilst recht scharf, mein Sohn“, meinte Wagner.
„Nun ja, mag sein.“

Wagner räusperte sich umständlich. „Ähem … Es geht um folgendes. Wie ich schon sagte, deine Mutter und ich ... Hm ... Wir machen uns Sorgen ... Über deine äh ... Setz´ dich bitte, dein Herumgerenne macht mich nervös!“
„Papa! Wenn du willst, dass ich dich verstehe, solltest du deutlicher werden!“ Kais glühende Wangen wurden um eine Spur blasser.
„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“
„Sag es einfach!“
„Du kennst die Prognose von Professor Rothermund?“ In der Stimme des Vaters lag größtmögliche Behutsamkeit.
„Ach, das ist es!“ rief Kai erleichtert aus. „Und ich dachte schon an sonst was! Natürlich kenne ich die! Ihr habt euch ja oft und laut genug darüber unterhalten! Der Weißkittel meint, in ein paar Jahren würde ich im Rollstuhl sitzen und mit dem Kopf wackeln.“
Wagner betrachtete seinen Sohn, diesen Philosophen mit dem Körper eines Kindes. Ein Tsunami von Schmerz überrollte sein empfindsames Vaterherz. Mühsam brachte er hervor: „Na na … Noch ist es nicht so weit! Und ob es überhaupt dazu kommt ... Rothermund war sich doch nicht sicher. Er ist Arzt, kein Prophet.“
„Doch, ist er! Ich hab´ doch Ohren im Kopf! Sein Getuschel neulich ... Die Ärzte! Sie verbreiten Hoffnung, auch wenn der letzte Furz schon geblasen ist! Das gehört zu ihrem Geschäftsmodell.“
„Kai, ich bitte dich! Bleib sachlich!“
„Entschuldige, Papa.“
„Du nimmst es, glaube ich, etwas zu sehr auf die leichte Schulter. Erschrickt dich diese Aussicht gar nicht?“
„Natürlich ist das nicht schön, was da auf mich zu kommt“, sagte Kai mit schmerzlich verzogenem Gesicht. „Ich habe mich im Internet schlau gemacht. Die Aussichten bei einer juvenilen progressiven Muskeldystrophie sind wirklich nicht rosig.“
„Du sagst das, als ginge es dich gar nichts an! Erschüttert dich diese Aussicht nicht?“
Kai blickte eine Weile betrübt vor sich hin. „Na ja, manchmal bin ich schon ziemlich niedergeschlagen. Aber was soll ich machen? In die Tischkante beißen? Ich tröste mich mit den zehn, fünfzehn halbwegs eigenmobilen Jahren, die ich noch vor mir habe! Die bleiben mir ja noch, und die kann mir keiner nehmen, auch der Weißkittel nicht. Und was danach kommt, das liegt in weiter Ferne. Dann bin ich dreißig, also sowieso schon ziemlich alt.“
Wagner musste unwillkürlich lachen. „Kai, unterschätz´ die Zeit nicht! Ehe du dich versiehst, ist es so weit!“
„Drum bereite ich mich ja schon langsam darauf vor!“
„Worauf?“
„Auf mein Rollstuhldasein.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Ich versuche jetzt schon, meinen Verstand auf der Basis geringst möglicher Körperlichkeit weiter auszubauen.“
„Ach deshalb isst du neuerdings so wenig.“
Kai bugsierte seinen Stuhl weiter an den seines Vaters heran und legte ihm die Hand aufs Knie. Es war eine große Hand mit langen, leicht gekrümmten Fingern und knotigen Gelenken. „Papa“, flüsterte er, „ich habe es noch niemandem gesagt, denn sie würden mich ja doch nur auslachen. Du bist der erste, der es hört: Ich möchte so werden wie Stephen Hawking !“
„Du meinst diesen englischen Physiker!“
„Ja. Seit Kind an ist er vom Hals ab querschnittsgelähmt und kann mittlerweile nicht mal mehr mit dem Kopf wackeln! Und trotzdem überrascht er die Fachwelt alle Jahre wieder mit faszinierenden Erkenntnissen über die letzten Geheimnisse des Universums! Er schreibt sogar Bücher! Mit der Außenwelt kommuniziert er mittels einer eigens für ihn konstruierten Tastatur. Oder denk an die vielen behinderten Athleten, die auf den Paralympics zu Bestleistungen bringen.“ Kais Wangen glühten. „Auf den Willen kommt es an, auf den Willen zu siegen.“

Wagner erstarrt. Natürlich hat er schon von dem entsetzlichen Schicksal dieses Physikers gehört. Er kann seine Erschütterung kaum verbergen.
Kai ist die innere Bewegung seines Vaters nicht entgangen. „Papa, hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass die Welt doch sowieso nur in unserem Kopf existiert? Ohne unsere Augen gäbe es weder Licht noch Schatten, ohne unsere Ohren keine Töne, ohne unsere Haut kein Warm und Kalt! Also, worüber regst du dich auf? Das Innen ist wichtig, nicht das Außen!“
Auf einmal erkennt Wagner, wie unbekannt ihm dieser Sohn ist.
„Da gibt es einen schwerstbehinderten jungen Dichter“, schwärmt Kai weiter. „Er kritzelt fantastische Welten auf grobes Papier. Den Schreibstift haben sie ihm an die Stirn gebunden ... Man fragt sich: Woher bezieht er seine Einfälle, denn er hat kaum Kontakt zur Außenwelt? Du siehst: Sie kommen von innen ...
Und auch dieser Physiker!“ ruft Kai in aufschäumender Begeisterung. „Der Mann besteht im Grunde nur noch aus Gehirn! Unbehelligt von körperlichen Störungen ist er in der Lage, immer grandiosere Einblicke in Raum und Zeit zu gewinnen. Einfach fantastisch! Und das alles ohne einen Cent für teure Apparaturen! Er grübelt Tag und Nacht und tippt seine Erkenntnisse mit den Fingern der rechten Hand in seine Tastatur!“
Wagner hört nicht mehr hin. Er ist immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Ich möchte so werden wie Stephen Hawking ... Mit allem hat er gerechnet, nur nicht damit. Ist das noch jugendlicher Überschwang, oder schon eine milde Form von Wahnsinn?
Er sieht Kais verpickelte, hohe Stirn, den blutroten Mund mit den aufgesprungenen Lippen, die Hakennase, die wie ein mit Haut überzogener Schnabel vor Kais Gesicht steht, die großen, mädchenhaft bewimperten Augen. Ein nie gekanntes Gefühl der Zuneigung erfasst ihn. Er springt auf, umarmt seinen Sohn und drückt ihn fest an sich.
Kai ist diese enge körperliche Nähe unangenehm. Sanft, aber entschieden löst er sich aus der Umklammerung. „Papa, soll ich dir erzählen, wie Heisenberg seine Quantentheorie ...“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Babuschka am 19.10.2023:

Es hat mir die Sprache verschlagen, vor soviel jugendlicher Weisheit. Kais Ansichten sind höchst interessant zu lesen!
LG Babuschka

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