Veröffentlicht: 25.09.2023. Rubrik: Unsortiert
Die erotische Kraft von Silberpappeln
Ja, ich gebe ohne Erröten zu: Ich küsse Bäume wie andere Leute Ihresgleichen. Lachen Sie nicht! Natürlich küsse ich auch Menschen, zumindest versuche ich es; meine Frau zum Beispiel oder die Nachbarin von gegenüber. Aber irgendetwas mache ich dabei wohl falsch. Meine Frau hat sich gerade von mir scheiden lassen, und die Nachbarin schrie Zeter und Mordio, als ich versuchte, sie auf den Mund zu küssen. Bei Bäumen, da hab ich mehr Glück; ja, ich habe sogar den Eindruck, sie mögen es, wenn ich sie umarme und abküsse; sie stehen still, geduldig, wie gebannt, ich schmiege mich ganz fest an und küsse sie.
Wie es dazu kam? Warten Sie . . . gut, es kommt gerade niemand, und Ihnen kann ich´s getrost erzählen . . .
Es war nach einer ziemlich ausgelassenen Klassenfete. Ich war damals 16 oder 17, hatte einiges intus, auch gekifft. Auf dem Nachhauseweg war ich ziemlich zugedröhnt – war´s der Sprit, war´s der Kiff, ist auch egal – jedenfalls hatte ich eine ziemlich stramme Hose, wenn Sie wissen, was ich meine . . . Ich torkelte durch den Stadtpark, nachts um halb zwei, gerade auf eine alte Silberpappel zu, deren weiß-flockige Samen den Boden wie ein Teppich bedeckten, ein Urbild heidnisch-ungehemmter Vermehrung. In einem Anfall wahnsinnigen Begehrens umarmte ich den glatten Stamm, rieb mich an ihm und bedeckte ihn mit Küssen . . .
Nun ja, das ist lange her, noch bevor Baumküssen zur Mode wurde. Heute ist meine Beziehung zu Bäumen eher platonisch. Ich küsse sie noch, ja, doch; wenn mir danach ist auch ausgiebig, sollen die Leute doch blöd gucken. Da ist zum Beispiel die schlanke Buchin auf der Promenade am See, stolz, aufrecht, eine Mittlerin zwischen Himmel und Erde. Ich schmiege mich an ihre sanfte, glatte, von der Mittagssonne erwärmte Rinde und bedecke sie mit Küssen; streichle sie wie eine Geliebte, auch wenn es nur eine hölzerne ist, aber ich weiß, sie ist einsam, genau so einsam wie ich; tätschele ihr den Rücken und flüstere: Halt dich aufrecht, altes Mädel. Sie dankt mir meine Zärtlichkeit, indem sie mich im Herbst mit einer Unzahl schöner goldbrauner Blätter beschenkt. Ob sie wohl weiß, dass ich noch andere hölzerne Freundinnen habe? Wenn ja, dann sagt sie nichts. Auch die anderen schweigen und genießen. Eine Wohltat im Vergleich zu dem, was ich bei meinem Übernachbarn so erlebe – –
Sie wundern sich? Wie? Buchin? Ach so . . . Bäume sind doch weiblich! Die Eiche, die Buche, die Linde und und und! Diese herrlichen Geschöpfe stammen aus der Zeit vor der Erfindung des Patriarchats, als Götter und Göttinnen noch gemeinsam in den Bäumen hausten; umrankt von Mythen und Märchen, Symbole der Unsterblichkeit. Manche sollen sogar Nympfen gewesen sein, die wegen ihrer Schwatzhaftigkeit von den Göttern in Bäume verwandelt wurden. Kann ich aber nicht wirklich glauben; meine Bäume schwatzen nicht, sie rauschen. Ja, das alte Heidentum liegt mir noch im Blut; hab ich wohl mit der Muttermilch eingesaugt; meine Vorfahren stammen aus einer Gegend, in der man noch heute Sonnenwend-Feste feiert und im Frühjahr bunt wie Papageien durch die Straßen der Stadt hüpft . . .
Wo war ich . . . ach ja. Ganz anders verhält es sich mit meiner zweitbesten Freundin, der Lindin im Hof hinter dem Haus. Wenn ich sie umarme und küsse, ist sie mir nicht Geliebte, sondern Wohltäterin, Beschützerin, und ich empfinde große Dankbarkeit. Der Tee ihrer Blüten beruhigt meine überreizten Nerven, ihr rauschendes Blätterwerk erzählt mir die schönsten Gute-Nacht-Geschichten, ihre mächtige Krone kühlt im Sommer meine aufgeheizte Dachwohnung. Wenn ich nachts von wirren Träumen geplagt hochschrecke, raunt sie mir geheimnisvolle Worte zu; Nympfen und Dryaden huschen durchs Geäst, der Mann im Mond kneift ein Auge zu, ich schlafe in der Gewissheit wieder ein, dass meine Welt noch in Ordnung ist.
Tja. Und dann ist da noch meine Eichbäumin draußen vor der Stadt . . . Nun ja, da muss ich allerdings gestehen, so recht warm werden wir beide nicht mehr, obwohl wir uns schon sehr lange kennen. Nicht, dass mir der Weg dorthin zu weit wäre oder wir uns keine Mühe gäben. Wie oft warteten wir gemeinsam auf den Sommer, damit sie endlich ihr dunkelgrünes Kleid anlegen konnte, wie oft habe ich sie in die Arme genommen, ihre raue Haut mit Küssen bedeckt und ihr den Rücken gekrault, damit ihr das Warten nicht allzu sauer würde. Trotzdem . . . Es liegt an ihrer Haut, die schwarz und rissig geworden ist wie die Seele eines Gemarterten, und die mir die Lust am Küssen verleidet. Zwar steht sie noch wie ein Fels in der Brandung, aber sie ist nicht nur alt, sondern auch dick geworden, mächtig dick, und ich mag eben keine übermäßig dicken Frauen. Ihnen, Herr, kann ich´s ja sicherlich sagen, ohne dass Sie mich gleich einen Frauenverächter schimpfen. Werde mir einen anderen Baum suchen, vielleicht sogar eine gerad gewachsene, schlanke Silberpappel. Stehen ja genug zur Auswahl. Werde möglicherweise, während ich sie umarme und abküsse, wieder etwas von der Lust der Jugend in mir spüren. Andere Männer glauben an die erotische Kraft von Autos, ich glaube an die erotische Kraft von Silberpappeln.
9-2023