Veröffentlicht: 27.08.2023. Rubrik: Unsortiert
Wölfe
Plötzlich waren sie da. Ich versuchte, sie zu zählen – vier, fünf, sechs – weiter kam ich nicht. Anscheinend hatte ich das Zählen verlernt. Jetzt begannen die Wölfe, mich zu umkreisen, langsam, bedächtig, ohne Hast. Das stärkste Tier, wohl der Rudelführer, das Alphatier, mit struppigem Fell, sah mich mit eisgrauen Augen an. Doch sein Blick war nicht etwa grausam oder blutdürstig. Der Blick war eher ernst, kalt, fast gelangweilt. In ihm lagen die haushohe Überlegenheit des Wolfs gegenüber dem unbewaffneten Menschen sowie Millionen Jahre Kampferfahrung.
Ich wusste sofort: Dies konnte kein Traum sein, dazu war die Situation zu realistisch. Ich roch sogar diesen Geruch, diesen herben, strengen Raubtiergeruch, wie ich ihn im Zoo vor dem Wolfsgehege gerochen hatte, hörte dieses gefährliche rrrr – rrrr. Wie damals nistete sich auch jetzt wieder Übelkeit in meiner Magengegend ein. Und doch, irgendwie roch es jetzt anders – nicht so tierisch, aber doch über die Maßen abstoßend.
Seltsamerweise bewegte mich die Frage, wie ich in diese unbekannte Gegend gelangt war, jetzt fast genauso wie die Anwesenheit der Wölfe. Ich konnte mich nicht erinnern, eine Waldwanderung vorgehabt zu haben, noch dazu an einem Wochentag, an einem Arbeitstag ... War nicht heute Montag?
Die Tiere trabten jetzt schneller, der Kreis wurde enger. Nur nicht die Nerven verlieren, dachte ich, wenn ich jetzt losrenne, fallen sie über mich her. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man schreien soll, wenn einem Elefanten zu nahe kommen. Anscheinend mögen Tiere Menschengeschrei nicht. Also schrie ich. Aber ich hörte nichts. Alles blieb stumm. Wenn etwas schrie, dann war es die Stille, die schrie. Also hatte ich auch das Schreien verlernt. Verzweifelt griff ich mir an die Kehle ...
Der Leitwolf, das riesige Tier, sprang auf mich zu und riss den Rachen auf, Fangzähne blitzten. Ich blickte entsetzt in das furchtbare Raubtiergebiss und roch den stinkenden Atem ...
Auf einmal waren die Tiere verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich war wieder allein. Und das Sonderbare: Ich wunderte sich noch nicht einmal.
Dafür beunruhigte ihn jetzt ein seltsames Geräusch. Es kam von weit her, doch ich vernahm es ganz deutlich. Es klang, als werfe jemand trockene Erbsen auf den Boden. Oder war´s das Geknatter von Gewehren, das Rasseln von Panzerketten? Bestürzt dachte ich: Jetzt ist also auch bei uns Krieg ... Ich wollte aufstehen und wegrennen. Aber auch das ging nicht. Meine Füße steckten in zähem Morast fest. Das Geräusch war jetzt ganz nah ... Eine panische Angst ergriff mich. Ich bekam keine Luft mehr; mir war, als müsse ich ersticken ...
Ein krachender Donner ließ mich hochfahren. Das knisternde Geräusch war jetzt genau über mir. Ich benötigte eine ganze Weile, um festzustellen, dass ich auf dem Sofa lag, und dass es keine knatternden Gewehre oder rasselnden Panzerketten waren, die da dröhnten, sondern dicke Hagelkörner, die hart auf das Dachfenster trommelten. Doch woher kam dieser Nebel, und dann dieser ekelhafte Gestank? Plötzlich war ich hellwach. Die Erbsensuppe! Ich sprang auf und lief in die Küche. Die Suppe war gerade dabei, sich in eine schwarz-braune Masse zu verwandeln, und schwarzer Qualm schwebte über dem Herd.
Aug. 2023