Die gesprungene Glocke

In meiner Nachbarschaft lebt eine junge Frau, ich schätze sie auf Mitte zwanzig, deren seltsames Lachen ab und zu durch unsere Gasse weht. Sie hinkt und stützt sich auf eine Gehhilfe; eine Pflegerin begleitet sie. Im Arm trägt sie einen kleinen grauen Teddybär, ihr Haar schmückt ein silbernes Krönchen. Ihren Kopf hält sie ein wenig zur Seite geneigt wie eine äugende Amsel. Wenn ich ihr entgegen komme, heitert ihre Miene auf; sie ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe, gleichwohl, ich sage: „Hei!“, oder „Hallo“! Dann lacht sie, aus ihren Augen sprüht unverfälschte Freude. Ich bilde mir nichts darauf ein, denn so macht sie´s mit jedem, der ihr entgegen kommt. Und doch . . .
Diese Begegnungen wühlen mich jedesmal auf. Was für eine Gesellschaft, denke ich, in der selbstlose Freundlichkeit anscheinend das Privileg solcher Menschen ist. Nun gut, die Nachbarn sind nett: Man grüßt sich, wechselt ein paar unverbindliche Worte und geht seiner Wege. Doch was heißt das schon. Nettigkeit ist der hauchdünne Film flüssigen Wassers auf angetautem Eis. Und, ja, da ist noch die berufsmäßige Freundlichkeit der Geschäftsleute. Auch gut, aber nicht von Herzen.
Bei manchen Naturvölkern galten solche Menschen als heilig. Diese Leute müssen aber eine andere Art von Heiligkeit gemeint haben, als sie bei uns üblich ist. Denn heilig bedeutet ja: Unkaputt, unversehrt, heil. Aber diese jungen Frau ist nicht heil; ihr Lachen gleicht dem verstörenden Klang einer gesprungenen Glocke. Ich grübele und denke: Warum lässt der Große Demiurg so etwas zu? Warum zerstört er den reinen Klang? Ich grübele und grübele und finde keine Antwort.

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor: