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geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 05.06.2023. Rubrik: Satirisches


Sexualkunde bei Studienrat Wunderlich

Wunderlich (32, Biologie und Chemie) keucht die Treppe zum zweiten Stock hoch.
Die Schüler haben eine Wache aufgestellt. Als der Knabe vor der 9b Wunderlichs markanten Kopf mit der großen Nase die Treppe hochschaukeln sieht, läuft er in die Klasse zurück, ruft: „Er kommt!“ und knallt die Tür zu.
Wunderlich betritt den Klassenraum und staunt. Dreiunddreißig Schülerinnen und Schüler sitzen artig auf ihre Plätzen und sehen ihm erwartungsvoll entgegen. Sein Gruß wird fast einstimmig beantwortet. Doch er gibt sich keinen Illusionen hin. Ihm ist sofort klar, dass etwas in der Luft liegt. Irgendetwas hat diese Rasselbande ausgeheckt. Zeit genug ist ja gewesen: Die Uhr über der Tür zeigt bereits zwölf nach zehn, regulärer Unterrichtsbeginn wäre um fünf vor gewesen. Schreyvogel hat wieder einmal kein Ende gefunden.
Wunderlich setzt sich und blickt in die Runde. Er sieht in erhitzte Gesichter, die ihn zum Teil lüstern grinsend oder auch verhalten mitleidig anstarren. Die Atmosphäre ist aufgeladen; durch die Wand hört er das Gepolter der Nachbarklasse: Frau Hübner kämpft wieder einmal gegen Windmühlenflügel.
Der Pädagoge ergreift das Klassenbuch, um den verspäteten Unterrichtsbeginn zu notieren. Von einer der hinteren Bankreihen erklingt unterdrücktes Glucksen. Sofort begreift er: Die Gefahr lauert diesmal im Klassenbuch. Er schlägt das Buch auf. Vor ihm ein lappiges, ausgeleiertes Präservativ.
Man hört deutlich das Ticken der Uhr über der Tür, so mucksmäuschenstill ist es (auch nebenan ist mittlerweile Ruhe eingekehrt). Die Klasse ist aufs Höchste gespannt.
Wunderlich denkt: Es kommt jetzt alles darauf an, die richtigen Worte zu finden. Ein kleiner Mann will Schlachten gewinnen, ein großer den Krieg, also gewinnen wir den Krieg!
Natürlich weiß er, woher der Wind weht.
Er blickt die beiden Schülerinnen in der Bank vor ihm an, die ihn anstarrten als wollten sie ihn auffressen. Was er sieht, erfüllt ihn nicht mit Zuversicht. Über Carmens rundem Vollmondgesicht erglänzt der Haarschopf teils in Schwaz, teils in blau-violett-grünen Farbtönen. Die Wimpern sind dunkel übertuscht, in den Ohrläppchen und in der Unterlippe klemmten Piercings. Ihre pralle Bluse schillert schwarz-seiden, unter der Bank schauen blanke schwarze Stiefeletten hervor. Am Ringfinger ihrer rechten Hand, die gerade ihr Maskottchen tätschelt, steckt ein dicker Siegelring mit Totenkopffratze. Das andere Mädchen mit dem Gesicht eines Trompetenengels und mit violetten Lidschatten hat sich etwas weniger auffällig herausstaffiert, aber für Wunderlichs Geschmack immer noch auffällig genug.
Es ist nicht ihr erster Versuch, diesen Lehrer in eine peinliche Situation zu bringen. Sie halten diesen Neuling, der keinen Ring trägt, offenbar für einen ollen verklemmten Junggesellen, dessen Widerstandsfähigkeit nun geprüft werden soll.
Wunderlich überlegt blitzschnell. Es gibt für ihn jetzt mehrere Möglichkeiten: Er kann eine ärgerliche, eine belehrende, eine schlagfertige oder gar keine Bemerkung machen. Er entscheidet sich für die schlagfertige Variante.
„Das nächste Mal erbitte ich mir unbenutzte Ware! Und jetzt ist Schluss mit lustig! Aus und over!“
Heiteres, unbeschwertes Gelächter. Einige Schülerinnen klatschen sogar. Wunderlich nimmt es nicht ohne Genugtuung zur Kenntnis. Diese Schüler können alles Mögliche sein: Faul, unhöflich, durchtrieben, unpünktlich, manchmal sogar bösartig. Nur eines sind sie nicht: Dämlich. Jeder weiß eine gute geistreiche Antwort zu schätzen.

SatirepatzerSatirepatzer In der Klasse nebenan geht es wieder hoch her. Lautes Stimmengewirr durchdröhnt die verschwitzte Luft. Etwas kracht mit dumpfen Knall gegen die dünne Wand und bringt sie zum Beben.
Wunderlich geht durch die Bankreihen und überprüft die Hausaufgaben. Ein Arbeitsblatt mit Lage und Funktion der innersekretorischen Drüsen sollte angemalt und beschriftet werden.
Eine Schülerin stöhn: „Herr Wunderschön, mir ist so warm!“, eine andere fragt: „Herr Wunderlich, darf ich etwas trinken?“ Ein Schüler will wissen, ob er etwas essen darf.
Auf solche und ähnliche Störmanöver hat Wunderlich verschiedene Standartantworten parat. Der einen Schülerin empfiehlt er: „Dann sitz gefälligst still, denn jede Bewegung erzeugt Reibungshitze. Übrigens heiße ich Wunderlich. Das Recht am eigenen Namen ist in § 12 BGB verankert. Ich kann also eine korrekte Anrede verlangen. Merk dir das“, der anderen donnert er ein klares „Nein!“ entgegen. Den Schüler belehrt er folgendermaßen: „Der Apostel Paulus sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Außerdem ist dazu die Pause da.“
Er beugt sich über Carmens Platz, um ihr Blatt abzuzeichnen. Auch Carmen kippt vor und betrachtet scheinbar interessiert des Lehrers Schreibhand. Dabei bietet sie ihm großzügig Einblicke in den Ausschnitt ihrer knapp bemessenen Bluse. Ihre Nachbarin, ebenfalls körperlich schon erstaunlich gut dabei, assistiert mit betörenden Blicken und ebenfalls tiefen Einsichten. Sie kniet auf dem Stuhl, ihre knappen Jeans geben den halben Hintern frei.
Nachdem Wunderlich alle Bankreihen passiert hat, setzt er sich und nimmt sein kleines rotes Notizbuch zur Hand, das die Kreis & Volksbank alljährlich der Lehrerschaft spendiert, das 'Genickschussbuch'. Da hinein notiert er aus dem Gedächtnis die Namen derer, die das Blatt nicht oder nur unvollständig ausgefüllt haben. Dies geschieht nicht nur, weil es zu seinen Dienstpflichten gehört, sondern auch als Demonstration seines blendenden Gedächtnisses. Als er alle Namen der sechzehn Sünder nennt, herrscht für eine Weile bewunderndes Schweigen.
Der Lehrer tritt zur Tafel und schreibt das Thema der folgenden Gruppenarbeit an. Es lautet: Dein Bruder gesteht dir, dass er homosexuell ist. Wie würdest du dich verhalten? Zeit: Zwanzig Minuten. Er sagt noch: „Die interessantesten Arbeiten wollen wir anschließend diskutieren. Die Auswahl nehmt ihr vor.“
Nach einer Weile hebt Carmen den Finger: „Herr Wunderlich, darf ich Sie etwas fragen?“
„Ja natürlich.“
„Ist Samenschlucken eigentlich schädlich?“
Irgendwo wird gekichert, ein Schüler mit einer verfetteten Stimme sagt: „Genau das wollte ich auch schon die ganze Zeit wissen!“
Wunderlich beschließt, durch Sachlichkeit zu verblüffen. „Im Prinzip nicht, aber wie so häufig liegt der Teufel im Detail. Wenn der Samenspender körperlich gesund ist, hätte ich grundsätzlich keine Bedenken. Nehmen wir aber mal an, er ist mit HIV infiziert, und du hast Zahnfleischbluten. Was kann dann passieren, he?“
Schon während er die Frage stellt, weiß er, wie idiotisch sie ist.
„Dann spuck ich´s eben wieder aus!“
Allgemeines Gelächter.
„Unsinn“, sagt Wunderlich und belehrt: „Du kannst dich trotzdem infiziert haben und an AIDS erkranken. Und das ist dann alles andere als lustig.“
Eine Weile kommt so etwas wie Arbeitsruhe auf, doch das nächste Überraschungsei ist schon gelegt.
Holger, ein riesiger Klops, der normalerweise unbeweglich wie eine alt-ägyptische Kolossalfigur auf seinem Stuhl hockt, kräht: „Herr Wunderlich, meine Oma sagt, vom Wichsen wird man schwachsinnig.“
„Hahaha, was verstehst du denn davon, du Kloß!“, blödelt jemand.
„Arschloch!“
„Ruhe!“, brüllte Wunderlich, „bin ich hier in einer terroristischen Vereinigung oder in einer neunten Klasse eines deutschen Gymnasiums?“ Erste Schweißperlen stehen auf seiner Denkerstirn.
„Mann“, kommt es von ganz hinten, „wo nehmen Sie diese Vergleiche her? Sind Sie etwa vom Staatsschutz?“
„Wird man nun, oder wird man nicht?“ Holger.
Wunderlich überlegt. Sollte er darauf antworten oder auf der Gruppenarbeit bestehen? Er entschließt sich, zu antworten, denn schließlich ist Sexualkunde.
„Bestell deiner Oma einen schönen Gruß von mir“, sagt er, „aber von diesen Dingen scheint sie keine Ahnung zu haben!“
Heiteres Händeklatschen. Der Punkt geht an den Lehrer. Aber der Rotz ist noch nicht vom Ärmel.
„Mein Vater behauptet das auch!“, insistiert Kai. Seine verpickelte Stirn blüht. „Hat der auch keine Ahnung?“
Vorsicht an der Bahnsteigkante, denkt Wunderlich, jetzt wird´s brenzlich. Ein falsches Wort, und ich stehe in Nullkommanix im Dienstzimmer des Schulleiters und hole mir einen Rüffel ab.
Aber gibt es ein höheres pädagogisches Gut als die Wahrheit?
„Nun ja“, beginnt er spitzmündig, „früher dachte man so, ja. Aber mittlerweile ist man anderer Ansicht. Es gibt keinen medizinischen Befund, dass Selbstbefriedigung das Nervensystem angreift. Die organischen Vorgänge sind die gleichen wie beim Niesen. Differenzierte Bereiche des Magen-Darmtrakts kontrahieren, wenn sie gereizt werden, und werfen Sekret aus.“
Atemlose Stille. Wunderlich weiß nicht recht, war´s sein Vortrag, der sie verblüfft, oder ist´s die Ruhe vor neuem Sturm.
Da knallte eine Stimme in den Raum: „Mann, das isn Ding! Ich werd nich mehr! Meine Oma niest manchmal siebzehnmal hintereinander!“
Das Gelächter ist nicht enden wollend. Von nebenan wird heftig an die Wand geklopft.
„So“, sagt Wunderlich, als sich die Klasse halbwegs beruhigt hat, „Jetzt wird gearbeitet, und zwar ohne wenn und aber!“
„Machen wir, machen wir!“, tönt es von mehreren Seiten.
Eine Weile herrschte tatsächlich Ruhe, dann fragt Carmen: „Herr Wunderlich, sind sie verheiratet?“
„Ich sagte Ruhe.“
„Ach, nun seien Sie doch nicht so. Sagen Sie es, und dann sind wir auch ganz brav.“
Wunderlich harkt sich das dichte Kraushaar. Was kommt denn nun schon wieder?
„Warum willst du das wissen?“
„Erst Sie, dann ich!“
„Na schön. Nein, ich bin noch nicht verheiratet, aber bald.“
„Darf ich Ihnen einen Kuss auf Ihre hohe Stirn drücken?“
„Im Prinzip ja, aber ich muss erst meine Verlobte fragen.“
„Aber mir kannste eenen uffdrücken!“, ruft jemand mit sich überschlagender Stimme.
„Dir, du Schisser? Wo hast du denn ne Stirn?“
Wunderlich weiß: Er hat bestanden.

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