Veröffentlicht: 01.03.2023. Rubrik: Unsortiert
Fenster 1
Neulich, als ich wieder einmal in Berlin unterwegs war, sah ich einen S-Bahn-Sonderzug der Baureihe 165, die, wenn mich nicht alles täuscht, noch in den 1980er Jahren in Dienst stand, und alte Erinnerungen tauchten wieder auf.
Damit man versteht, worüber ich rede, kurz folgendes: Die Fensterfront dieser historischen Züge ist dreigeteilt; rechts und links vom Mittelfenster befinden sich zwei weitere, und das Besondere nun ist, dass deren Oberkante nicht waagerecht verläuft, sondern nach außen hin leicht geneigt.
Es gab eine Zeit, da haben mich diese Fenster bis in den Nachtschlaf hinein verfolgt. Damals sah ich darin nicht schnöde Ausgucke für den Zugführer und seinen Begleiter, sondern ein Gesicht, und dieses Gesicht besaß etwas unendlich Trauriges, Weinerliches. Ja, weinerlich, das ist das richtige Wort. Die Bahn schien mir einen geheimen Kummer mit sich herumzufahren, den mir mitzuteilen sie keine Zeit hatte, denn sie war ja pausenlos unterwegs. Ich könnte jetzt natürlich anfügen, dass ich Erschütterung erkannte, eine Erschütterung, die ihr damals, nach dem Krieg, das Herumfahren in dieser unter schlimmen Kriegswunden leidenden Stadt bereitete; aber das wäre dann doch etwas zu weit hergeholt; ich glaube nicht, dass ich als sechsjähriger Steppke zu solchen Überlegungen fähig war. Geblieben ist aber immer noch die Erinnerung an das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das mich überkam, wenn der Zug in den Bahnhof einlief und mich traurig ansah.
Überhaupt Fenster ...
Noch heute sehe ich in Fenstern nicht verglaste Öffnungen im Mauerwerk, sondern Augen, die einem Haus ein Gesicht geben, und die mich, wenn ich durch die Stadt schlendere, auf die eine oder andere Weise anblicken. Da ist zum Beispiel der ernste Blick der Fenster mit einem Kreuz, die etwas Ernsthaft-Weihevolles ausstrahlen. Manchmal bin ich kurz davor, niederzuknien, denn ich bin zwar kein kirchengläubiger, aber ein durchaus nachdenklicher Mensch. Ein anderes, mit Sprossen und Butzen, gibt mir zu verstehen, dass es nicht die Absicht hat, mir sein Herz zu öffnen; ein weiteres, in dem sich gerade die Sonne spiegelt, zeigt mir in geradezu arrogant-mafiöser Weise, dass es sich nicht in die Karten gucken lassen will; ein Dachfenster schöpft mit geöffnetem Maul Atem, kein Wunder, bei den gegenwärtigen Temperaturen da oben. Dann gibt es welche, die mich hochnäsig übersehen, meistens Fenster von Wohn- und Geschäftstürmen; andere blinzeln mich listig an, wie diese schießschartenähnlichen Öffnungen in der neuen Musikschule, bei denen man zweimal hinschauen muss, um sie überhaupt als Fenster zu erkennen.
An manchen gehe ich schnell vorüber; entweder sind sie mir zu ernst – ich meine diese mit einem geraden Abtropfsims über dem Sturz, der ihnen etwas Streng-Humorloses verleiht; hingegen bei Rundbogenfenstern werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an diverse unbezahlten Rechnungen erinnern wollen.
Ein ernsthaftes Problem stellen für mich zwei Kellerfenster im Nachbarhaus dar, die sich offensichtlich minderwertig fühlen; denn jedesmal, wenn ich vorbeigehe, schlagen sie verschämt die Augen nieder. Ich weiß dann nicht, wie ich mich verhalten soll; am liebsten würde ich hingehen und sie trösten, etwa, indem ich ihnen sage: Hört mal, nicht jeder kann ein Häuptling sein; aber das könnte den Neid der Erdgeschossfenster darüber nach sich ziehen, denn die sind im Grunde auch nicht viel besser dran. Also schweige ich und gehe schnell weiter.
Und dann sind da die Fenster des Historismus im Haus nebenan, die mit dem Dreiecksgebälk. Für mich haben sie jede Ernsthaftigkeit verloren, sie erinnern mich an einen Kinderclown, der sich dreieckige Augenbrauen aufgemalt hat und die wildesten Purzelbäume schlägt. Ich rechne jeden Moment damit, dass ein oder zwei dieser Fenster aus der Fassade springen und auf der Straße herumtollen könnten.