Veröffentlicht: 20.12.2022. Rubrik: Unsortiert
Der flammende Tsunami
In dieser Stadt war die Zeit nicht nur stehen geblieben, sie war für mein Gefühl auch auf eine geheimnisvolle Weise abhanden gekommen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Bahnhofsuhr Stunde und Minute korrekt anzeigte. Ich war mir sicher: Dabei konnte es sich nur um eine geliehene Zeit, keineswegs um die Ortszeit handeln.
Doch dann entdeckte ich, dass alles noch viel verwirrender war ...
Vor ein paar Wochen befand ich mich auf einer Geschäftsreise nach Stendal, Sachsen-Anhalt. Da sah ich auf einem Wegweiser an der Bundesstraße:
Bismark 16 km.
Bismark? Mit einfachem „k“?
Mir war der Name bisher nur im Zusammenhang mit dem Reichsgründer und 'eisernen Kanzler' Otto von Bismarck bekannt. Dass es einen Ort dieses Namens gab überraschte mich, und der Terrier in mir war geweckt. Bei der nächsten Kreuzung verließ ich die große Straße und bog in Richtung Bismark ab.
Vom Zustand der Nebenstrecke bis dorthin nur so viel: Mehr als einmal überlegte ich, ob es nicht besser sei, zurück auf die gut ausgebaute Bundesstraße zu fahren, direkt nach Stendal, meinem eigentlichen Reiseziel.
Heute weiß ich: Es wäre einen Fehler gewesen.
Der Ort schlug mich sofort in seinen Bann. Und obwohl nun schon einige Monate verstrichen sind, die Eindrücke, die ich während der kurzen Ortsbesichtigung empfing, geistern immer noch in meinem Kopf herum. Nicht, dass etwas Besonderes passiert wäre – es passierte nichts, aber auch rein gar nichts Bemerkenswertes. Doch gerade diese tödliche Langeweile, die mich anwehte wie ein lauer Abendwind, diese Aura absoluten Stillstands hinterließ in mir, der ich aus einer überquellenden Stadt kam, einen tiefen Eindruck.
Nun gut, einiges geschah schon, schließlich wohnen dort Menschen. Leute liefen auf den Straßen herum und Autos fuhren, wie überall im Land. Ein paar Tauben schwangen sich in die Luft, irgendwo bellte ein Hund, irgendwo schrie ein Kind. Und wenn ich richtig erinnere, lief gerade die Kleinbahn in den Bahnhof ein. Der große Zeiger der Bahnhofsuhr rückte eine Minute vor. Ein Bus hielt, Leute stiegen aus und ein. Alles nicht erwähnenswert und vor allem: Entsetzlich trivial, denn es geschieht in jeder Sekunde eine Million Mal auf der Welt.
Lässig schlenderte ich durch die Straßen des Städtchens. Bald kam ich auf einen weiten Platz, der von niedrigen Häusern umgeben war. Die Leute bewegten sich bedächtig, wie im Zeitlupentempo, so kam es mir vor, die Köpfe gesenkt, als suchten sie etwas, das sie nicht finden konnten. Der Platz fiel leicht ab, und ich hatte von meinem Standort aus einen weiten Blick über den Ort, der jetzt unter dem wolkenverhangenen Himmel wie aus der Zeit gefallen wirkte.
In einiger Entfernung entdeckte ich über den Dächern die Kronen hoher Kiefern. Ich vermutete einen Park. Jedoch: Der vermutete Park entpuppte sich jedoch als ziemlich weiträumiger Friedhof, umgeben von einer Backsteinmauer, die in allen möglichen Rottönen schimmerte. Diese Mauer allein war ein Abenteuer für sich: Vom Alter gebeugt, von Wind und Wetter gezeichnet, mit Moosen und kleinen Farnkräutern bewachsen, zog sie sich endlos dahin. Hinter der Mauer stand dunkel und erstarrt der Kiefernwald mit den Grabsteinen zwischen den schwarzen Stämmen. Ich hatte den Eindruck, als sei auf diesem Friedhof in seine unbewegten Düsternis auch die Zeit beerdigt, die dem Ort offenbar fehlte. Ja, dachte ich, hier sah es schon vor fünfhundert Jahren so aus, und es wird sich vermutlich auch in den nächsten fünfhundert Jahren nicht viel ändern.
Und jetzt geschah etwas Eigenartiges. Die Wolkenstaffeln rissen auf, Sonnenstrahlen schossen herab, die Mauer erstrahlte feurig wie ein flammender Tsunami. Doch nur für einen Moment; kurz darauf stand wieder alles in starrer Grauheit.
Nachdenklich kehrte ich um.
Wieder kam ich an der Bahnhofsuhr vorbei. Ich fixierte sie scharf. Wird sich der Zeiger rühren? War meine Beobachtung vorhin eine Sinnestäuschung gewesen? Stand die Zeit hier wirklich still?Zunächst sah es so aus – doch dann: In zackig-tänzelnder Bewegung rückte der große Zeiger vor.
Ein wenig enttäuscht ging ich weiter. Welche Zeit zeigte diese Uhr an? Die Ortszeit konnte es ja nicht sein, denn die lag ja auf dem Friedhof begraben. Es musste also eine … eine … Ja, es konnte sich nur um eine geliehene Zeit handeln.
Im Hotel nahm ich mein Laptop heraus und schaute nach. Seitenweise Bismarck, Otto von, aber nichts zu Bismark. Noch nicht einmal der Hinweis, dass die Bismarcks aus Bismark stammen. Immer, wenn ich Bismark eintippte, kam Bismarck dabei heraus. Ha!, rief ich, hat die Stadt denn keinen Internetauftritt? Sollte sie tatsächlich immer noch nicht wirklich in der Jetztzeit angekommen sein? Doch endlich: Stadt Bismark (Altmark).
Und jetzt las ich, warum mir die Stadt so verwirrend vorgekommen war. Im Jahre 1776 brannte sie vollständig nieder, wobei alle Häuser, Kirchen, Dokumente vernichtet wurden. Und anscheinend auch ihre Zeit. Jetzt begriff ich die flammende Röte der Friedhofsmauer. Es war die zu Stein gewordene Erinnerung an diesen verheerenden Stadtbrand.
Seitdem geht mir dieser kleine Marktflecken nicht aus dem Kopf. Ich habe schon viele große Städte besichtigt, Berlin, Paris, London, um nur einige zu nennen. Aber keiner dieser städtebaulichen Highlights hat mich gedanklich so nachhaltig beschäftigt wie dieses arme und anscheinend aus der Zeit gefallene Bismark.