Veröffentlicht: 07.12.2022. Rubrik: Unsortiert
Heriberts Fall und Verklärung
Als Marthas Tränen halbwegs getrocknet waren (ihr erinnert euch sicherlich noch, geneigte Lesende: Martha war Heriberts Frau), machte sie sich daran, die Papiere ihres verstorbenen Gatten zu sichten und zu ordnen. Ein Stapel Bankbelege erregte ihr besonderes Interesse; sie blätterte mehrmals vor und zurück, und auf einmal ging ihr Atem keuchend. Dann sackte sie mit einem dumpfen Wehlaut auf einen Stuhl und schlug die Hände vor´s abgehärmte Gesicht. Wie es aussah, war sie kurz davor, wahnsinnig zu werden – so berichtet zumindest die fromme Tante Lisbeth (die Schwester von Heriberts Mutter), die bei der Sichtung der schriftlichen Hinterlassenschaft ihres Neffen zugegen war. Jetzt fiel es Martha wie Schuppen von den Augen, wie man so gedankenlos sagt. Ihr war schlagartig klar geworden, warum in der Haushaltskasse der letzten Zeit meist Ebbe gewesen war (obwohl Heribert nicht schlecht verdient hatte), warum immer noch kein Auto vor der Tür stand, warum er und seine drei halbwüchsigen Rotznasen spindeldürr und abgerissen herumgetrottelt waren, warum sie selbst um jede Sonderausgabe hatte kämpfen musste, warum ihr Mann zum Schluss kaum noch etwas gegessen hatte, und warum – fast genier´ ich mich, dergleichen zähen Zunder mitzuteilen – warum die Familie in der Küche statt auf anständigen Stühlen auf ausrangierten und zerschlissenen Autositzen Platz nehmen musste. Nein, es ist kein makabrer Witz, den ich da zum Besten gebe, ich hab´s doch selbst gesehen, und wenn´s nicht wahr wäre, wüd´ ich es nicht erzählen.
Was war geschehen?
Es stellte sich heraus, dass der „Freigeist“ Heribert einer Sekte – wenn ich recht erinnere waren´s die Scientologen – regelmäßig und über Jahre hinweg heimlich größere Geldbeträge überwiesen hatte. Wieder waren Tränen fällig, aber diesmal keine der Trauer, sondern aus Wut und Verzweiflung. Die fromme Lisbeth, als sie es vernahm, rief: „Dä Kret, dä!“ (diese Kröte), womit sie zu verstehen geben wollte, dass der Verblichene postum den Rest ihrer religiösen Toleranz aufgebraucht hatte.
Auch mich traf diese Nachricht schwer. Ein Vorbild stürzte vom Sockel. Sollte dieser Mann, mit dem ich manche Nacht über Gott und die Welt verdiskutiert hatte, und dessen klares, unvoreingenommenes Denken ich bewunderte, doch nichts anderes ein Hallodri gewesen sein, der einer fixen Idee wegen seine Familie vernachlässigte?
Letzte Nacht, als ich in Träumen lag, erschien er mir wieder. Seine Gestalt war noch dürrer, als ich sie tagsüber in Erinnerung hatte, und gebeugt, als laste eine schwere Bürde auf seinen Schultern. Wieder sah er mich mit seinen leichten Froschaugen an; jetzt schien mir, als spreche ein nagender Kummer aus ihnen, ja möglicherweise sogar die Bitte um Verzeihung. Jetzt öffnete er den Mund – wieder hörte ich seine überraschend tiefe Stimme – doch ich verstand nichts – da verschwand das Traumgebilde, vom schnöden Schnarren des Weckers verscheucht.
Was hatte er mir mitteilen wollen? Dass ihn sein Hirntumor um den Verstand gebracht hatte? Dass er falschen Heilsverkündern nachgerannt sei und sich deshalb schäme?
Brauchst du nicht, Onkel Heribert, brauchst du nicht! Du hast geirrt, und Irren gehört zum Menschen wie der Schwanz zum Hund! Also was soll´s. Du warst dein Leben ein interessanter und toleranter Zeitgenosse und hast, bis auf das bittere Ende, für deine Leute gesorgt.
Ruhe in Frieden.