Veröffentlicht: 01.12.2022. Rubrik: Unsortiert
Kamingespräche 3
Rainer blickte sich um. „Wo ist denn Gisela?“, fragte er.
„Ins Bett gegangen“, erklärte Irani. „Sie meinte, der religiöse Kram interessiere sie nicht. Außerdem habe sie wieder Migräne.“
Plötzlich fiel Holger vor Irani auf die Knie und deklamierte mit drolligem Pathos:
„Quäle mich, tue Unrecht, meide mich!
Schön bist du doch ganz und gar!
Und tue, was du willst!
Was du auch tust, es steht dir gut.
Ich halte aus, ob du nun willst oder nicht,
Und ertrage deine Sprödheit.“
Irani blickte verdutzt auf ihn herab. „Hey, Mann, was ist denn mit dir los?“, raunzte sie, „ist dir der Glühwein in die Birne gefahren?“
„Die Liebe hat mich Euch leibeigen gemacht,
in der Knechtschaft eines Sklaven,
der von Geblüt ein König ist,
der aber aus dieser Knechtschaft
nicht freigelassen werden will“,
flötete Holger fröhlich weiter.
„Er ist tatsächlich wahnsinnig geworden“, stöhnte Irani und blickte Rainer hilfesuchend an. Der Eindruck war auch nicht ganz abwegig; das lodernde Kaminfeuer ließ Holgers Gesicht wie irr aufleuchten.
„Unsinn!“, lachte der und stand auf, „er hat nur zwei alt-arabische Dichter aus dem neunten Jahrhundert zitiert. Ja, ihr habt richtig gehört, meine Lieben! Die Verehrung der Frau ist eine arabische Erfindung! Für ein Jahrhundert gelang es der arabischen Poesie, das asketisch-abweisende Frauenbild des Christentums zu überwinden und die Dame mit dem Rosenwasser der Verehrung zu tränken. Das ist Minne vom Feinsten! Ja, ihr habt recht vernommen. Der Minne ist eine Erfindung arabischer Eroberer. Setzen wir uns doch!“
„Hihihi“, kicherte Irani, „mit dem Rosenwasser der Verehrung! Ich glaub´s nicht!“
„Die Morgenröte verlieh dir
die rosig blühenden Wangen,
vom wiegenden Kaffeestrauch
hast die die schlanke Gestalt empfangen.
Die zierliche Gazelle schenkte
dir des Fußes heitere Schnelle,
vom Sternenzelt entwendetest du
des Auges blitzende Helle.“
„Gut, gut, wir glauben´s ja!“, rief Rainer genervt. „Komm mal wieder runter von deinem Wolkenkuckucksheim!“
Doch Holger ließ nicht locker:
„Frage mich so viel du willst, meine Schöne,
meine Antwort wird ein silberner Wasserfall sein!“
Auf einmal war alle Komödie aus Holgers Mienenspiel verschwunden.
„Das ist der Unterschied“, rief er, „so antwortet ein arabischer Schriftsteller auf die Frage einer Dame. Und wie heißt es bei Luther, he?
Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!“
Rainer fuhr hoch. „Willst etwa behaupten“, rief er aufgebracht, „Luther sei ein Frauenverächter gewesen? Da hört sich aber alles auf!“
Holger winkte ab. „Reg dich nicht auf. Natürlich nicht. Nur, Luther hat ja bekanntlich dem Volk aufs Maul geschaut und den Zeitgeist des christlichen fünfzehnten Jahrhunderts wiedergegeben. Nach ihm redet Jesus seine Mutter mit 'Weib' an, der 'Diener Allahs' eine Sklavin mit 'meine Schöne'“
„Jetzt würde ich aber doch gerne wissen, Holger“, sinnierte Irina laut, „worauf du hinaus willst. Liegt da wieder mal ein Anschlag auf irgendeine Glaubensgewissheit in der Luft?“
„Das“, schmunzelte der, „beantworte ich, wenn ein frischer heißer Glühwein vor mir steht!“
Holger beugte sich vor, um nach seinem Glühweinglas zu greifen. Auf einmal waren drei lodernde Feuer zu sehen; eines im Kamin, zwei weitere in Holgers schwarzen Pupillen.
Holger trank, setzte das Glas ab und fuhr fort: „Als im Januar 1492 der Kardinal Pedro Gonzales de Mendoza das Kreuz über der Alhambra, dem großen Königspalast der Nassriden, errichten ließ, war es mit der Toleranz – und nicht nur mit der in Liebesdingen – wie sie die arabischen Herrscher geübt hatten, vorbei. Und nicht nur das.
Eine der großartigsten und glanzvollsten Epochen des europäischen Kontinents ging zu Ende. Innerhalb weniger Jahrzehnte vernichtete die christliche Siegermacht das großartige Erbe der muslimischen Kultur in Andalusien, wo die islamischen Araber keineswegs wie 'die Wandalen' gehaust hatten. Erzbischof Juan Ximinez rühmte sich, über eine Million arabische Schriften dem Scheiterhaufen übergeben zu haben.
Am Beginn der Neuzeit erlosch die Sonne Allahs über dem alten Kontinent, und es wurde finster. Die Zeit der Hexenverbrennungen, der Judenpogrome, der Verfolgung Andersdenkender begann – nicht nur, aber im 20. Jahrhundert hauptsächlich in Deutschland. Soviel zur Frage nach der 'deutschen Leitkultur'.
Ich will nichts idyllisieren. Der Orient war in seiner Geschichte nicht weniger kriegerisch als der Oxident. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein:
Was wäre, wenn – ?
Was wäre, wenn Kreuz und Halbmond nebeneinander auf dem Turm der Alhambra geprangt hätten? In welcher Geistesverfassung wäre Europa heute, wenn die Türken im achtzehnten Jahrhundert nicht alle Eroberungskriege gegen die Österreicher und die Russen verloren, Wien erobert und sich dort etabliert hätten? Wäre es der 'Untergang des Abendlandes' gewesen, um einen bekannten Buchtitel zu zitieren?
Natürlich, die Antworten auf solche Fragen sind hoch spekulativ. Aber in einem bin ich mir sicher: Der Holocaust wäre der Welt erspart geblieben. Denn der Judenhass, der sich wie ein blutroter Faden durch die zweitausendjährige Geschichte eben dieses Abendlandes zog, war kein arabisches Phänomen –“
„Ha!“, rief Rainer, „wieder so ein Onk, den du uns da aufbinden willst! Und was ist mit der Drohung des Iran, !srael auszulöschen? Das ist kein Judenhass, hä?“
„Die unglückliche Siedlungspolitik Israels verschiebt leider die Gewichte zugunsten des Hasses“, stellte Irani schmallippig fest.“
„Auch so ein Tabu-Thema“, grummelte Rainer.
Holger blickte nachdenklich ins Kaminfeuer. „Was ist seitdem geschehen“, räsonierte er weiter, „dass aus der hellen Sonne Allahs ein Schwarzes Loch über Europa werden konnte? Wie konnte es passieren, dass aus der 'huldreichen Herrin', aus der 'liebreizenden Tyrannin' ein schwarz-verschleiertes Schatten wurde?
Eine sachliche Debatte zu diesem Thema ist kaum mehr möglich, zu aufgeheizt ist die Stimmung im Lande. Und in den Medien ist kaum mehr von der Kultur, aber immer mehr von Krieg und Bombenterror die Rede, wenn es um das Stichwort Islam geht. Allmählich geraten alle Muslime unter Generalverdacht. Die Gründe –“
„Uähhh!“, gähnte Rainer ziemlich hemmungslos, „hast du nicht was anderes auf Lager? Vielleicht eine Hexenverbrennung über feuchtem Holz? Wär doch mal was anderes.“
Irani stand auf. „Na, dann verbrennt ihr mal Hexen, ihr beiden. Ich schau mir draußen lieber den Jungmond an.“