Veröffentlicht: 25.10.2023. Rubrik: Unsortiert
Die Frau auf der Parkbank
Die Frau saß da, vorgebeugt, in grauem Rock und graublauer Bluse, fast unbeweglich, die Strähnen ihres altersgrauen Haars umgaben ihr Haupt wie Medusenarme; neben sich eine nostalgisch wirkende Handtasche, deren Farbigkeit die Tristheit ihrer Kleidung noch unterstrich. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, wobei auch ihre übrige Erscheinung etwas Unbestimmt-Nebelhaftes an sich hatte. Ihre ganze Aufmerksamkeit war einer kleinen Schar Tauben gewidmet, die vor ihren Füßen eifrig heumpickten, und denen sie mit zitternder Hand Brotkrümel zuwarf (obwohl das Taubenfüttern in dieser Stadt verboten ist), mit einer Hingabe, als sei das Füttern von Tauben das Wichtigste von der Welt.
Auf einmal erfasste mich eine seltsame Ergriffenheit; sie musste von der Frau ausgehen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte; von ihrer Aura, denn ich konnte ja ihr Gesicht nicht sehen; von geheimnisvollen Strahlen, die selbst das dicke Glas der Fremdheit überwanden, von ihrem schmächtigen Körper; ich hatte keinen Grund, ergriffen zu sein, gerade heute nicht, nach einem langen anstrengenden Arbeitstag, und sonst war niemand in der Nähe. Im Weitergehen blickte ich zurück; der Blick der Frau war immer noch starr auf die Tauben gerichtet, die jetzt in wilde Bewegung gerieten. Nachdenklich ging ich weiter. Was verstört dich denn so, grübelte ich, du bist doch sonst kein Trauerkloß!
Nach einer halben Stunde etwa kam ich zurück, wieder an der Parkbank vorbei. Die Frau saß immer noch da, obwohl es schon dunkelte, unbeweglich, die Tauben waren verschwunden. Jetzt blickte sie auf, anscheinend fühlte sie sich beobachtet, und ich sah ihr Gesicht; ein Gesicht, an dem nichts Besonderes war, höchstens der Widerschein abgrundtiefer Enttäuschung.