Veröffentlicht: 01.11.2023. Rubrik: Unsortiert
Die geile Nudel
Das Abitur bestand sie mit Ach und Krach, möglicherweise nur, weil die Schule diese Schülerin, deren Mutter die Fachlehrer mit ihrem endlosen Gejammer allmählich nervte, endlich los werden wollte.
„Friederike, dir fehlt es an Ehrgeiz!“, schimpfte der Vater ein übers andere Mal, „nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!“
Wirklich. Friederike war keine Tochter, auf den ein ehrgeiziger Vater stolz sein konnte. Dabei war sie nicht dumm, und auch nicht wirklich faul. In Sport war sie sogar eine der Besten, und beim Fußball konnte sie mit jedem Jungen mithalten. Als Schüler für die Betreuung des Schulbiotops gesucht wurden, war sie die Erste, die sich meldete. Ja, das Praktische lag ihr. Sie war einfach nur auf der falschen Schulform gelandet.
Und sie konnte manchmal ganz schön picheln, besonders, wenn Jungs dabei waren. Und das, obwohl schon geringe Mengen an Alkohol sie manchmal zu Albernheiten verführten.
Einmal, anlässlich eines Schulfestes, ließ sie sich von einigen dieser Burschen überreden und machte eine Sauftour mit. Die Folgen waren dementsprechend. Stundenlang randalierte sie mit den Jungs durch die Straßen der nächtlichen Stadt, umarmte Mülleimer und machte ihnen idiotische Liebeserklärungen. Und alle hatten ihren Spaß und lachten sich halb tot. Was ihr den Ruf einbrachte, eine 'geile Nudel' zu sein.
Um die Schule kümmerte sie sich kaum, warum auch? Ihr reichte es, wenn sie nicht sitzen blieb. Und ein Paptus hätte sie übrigens auch nicht weiter gestört. In der Schule war es im Winter warm, das Essen genießbar, und die Lehrer waren bis auf wenige Ausnahmen freundlich. Also, Hand aufs Herz, warum unnötig früh ins so genannte Leben eintreten? Aber sie blieb nicht sitzen, allen Unkenrufen der Lehrer zum Trotz. Sie schaffte es immer wieder, im letzten Moment über die Runden zu kommen. Sie nannte das Arbeitsökonomie.
Im Physikunterricht hatte sie den Satz: 'Elektrische Leistung ist elektrische Arbeit geteilt durch Zeit' aufgeschnappt. Demnach ist eine Leistung um so höher zu bewerten, je weniger Zeit ich für sie benötige, überlegte sie. In dieser seltsamen Philosophie richtete sie sich behaglich ein. Es störte sie auch nicht, wenn sie die Lehrer eine Saisonarbeiterin schimpften und einer sie sogar die mit Abstand faulste Schülerin der Anstalt und einen Bruder Leichtfuß nannte. Sie verzieh ihm den 'Bruder' und ließ alles beim alten. Sie sah die verpickelten und schlecht gelüfteten Klassenkameraden und -innen der letzten Bank und dachte: Was soll´s! Die Dummen schuften, der Schlauen genießen. Schließlich ist der Mensch kein Tier!
Nun ja, wir wollen objektiv bleiben. Auch Friederike versuchte, fleißig zu sein, zumindest manchmal. Aber es gelang ihr einfach nicht auf die Dauer. Sie konnte einfach nicht lange genug stillsitzen. Nach einiger Zeit fing es an, sie hier zu jucken, da zu zwicken, dort zu kratzen, und bald machte sie Bewegungen wie ein verlauster Affe. Sie musste dann hinaus in Wind und Wetter und sich auf dem Fahrrad frei strampeln.
Schon früh zeigte sich ihre Empfindlichkeit gegenüber wirklichen oder eingebildeten Ungerechtigkeiten. Einmal, als sich die Eltern fürchterlich stritten, ging sie wie eine Furie dazwischen. Anschließend musste sie sich auf dem Klo übergeben. Danach suchte sie jedesmal, wenn es wieder so weit war, das Weite. Die Eltern führten eine kämpferische, aber nicht unbedingt eine schlechte Ehe. Ihr Problem: Sie konnten nicht miteinander reden. Wenn es nichts auszufechten gab, waren sie das friedlichste Paar, und für einige Zeit war Ruhe.
Bis sie mit der Nachricht hereinplatzte, sie wolle zur Polizei gehen.
„Kind ... Kind ...", rief die Mutter händeringend, „hast du dir das auch gut überlegt?“
Natürlich hatte sie sich das gut überlegt. Sie wollte dazu beitragen, dass die Welt ein nicht noch unsicherer Ort wurde, als sie es jetzt schon war, sagte sie. Und neuerdings nehmen sie auch sportliche Frauen, die gerade mal einen Meter fünfundsechzig groß sind, sagte sie.
Was sie nicht sagte, war dies: Sie hatte festgestellt, dass ihr große bullige Männer imponierten und ihre erotische Fantasie anregten.
Der Vater schnauzte: „Kommt überhaupt nicht infrage! Du lernst was Ordentliches!“
Sie lachte ihn aus. „Du kannst mich mal! Ich bin achtzehn!“
Und wieder gab es Streit ...
Zwischen ihr und dem Bruder kam es mehrmals zu kurzen, aber scharfen Auseinandersetzungen. Dessen Einkommen stieg von Jahr zu Jahr und somit auch seine Ansprüche. Der Bruder konnte nicht begreifen, dass es Menschen gibt, die mit wenig zufrieden sind.
„Mensch, Friederike“, polterte er, „hast du gar keine Ambitionen? Das gibt es doch nicht, dass einer nicht vorwärtskommen, sich entfalten will. Willst du ewig Obermeisterin bleiben? Bei A 8? Manchmal denke ich, du bist nicht normal!“
Sie sah den Bruder lächelnd an. „Wie ... Was … Nicht normal? Bin ich auch nicht, Alter, aber m-mir ge-gefällt es!“, antwortete sie mit leichtem Stottern. Dieser Bruder brachte sie immer etwas aus der Fassung. „Und du wirst lachen, ich vermisse auch nichts. Mir gefällt´s eben. Anscheinend fehlt mir dieses Besitzstandsgen. Das hast du wahrscheinlich doppelt abbekommen.“
René betrachtete die frische Gesichtsfarbe der Schwester. Sie sieht gesund aus, gestand er sich ein. Eine Frischluftfanatikerin. Anscheinend fehlt ihr tatsächlich nichts. Da ihm nichts Besseres einfiel, sagte er: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“
Friederike lachte ihm ins Gesicht. „Da verwechselst du was, mein Lieber! Nicht Müßigkeit ist aller Laster Anfang, sondern Faulheit! Müßiggang ist eine Tugend, die nur wenige beherrschen. Sie ist die Voraussetzung für den Genuss, denn um genießen zu können, muss man frei sein, frei von materiellem und geistigem Ballast. Aber davon verstehst du nichts, du Hornochse! Du bist nur hinterm Geld her und übersiehst die hellen Quellen der Freude, die auf deinem Weg liegen. Ich bezweifle, ob du überhaupt genussfähig bist. Ich meine natürlich echte Genüsse, keine billigen Aftergenüsse. Oder hast du dich schon mal über einen glitzernden Tautropfen in der Morgensonne gefreut?“
Natürlich, solche Gespräche konnten zu nichts führen, höchstens zu verärgertem Stühlerücken und höhnischem Grinsen.
Tja, eines Tages merkte sie, dass sie schwanger war. Ein Vater war leider nicht zur Hand. Friederike rechnete nach. Es musste auf der Sternfahrt nach Hamburg passiert sein, als sie in dem Hotel in der Nähe der Reeperbahn übernachteten. Sonst konnte sie sich an nichts mehr erinnern.
Jetzt ist Friederike Weichbrodt zweiunddreißig und tatsächlich Polizeiobermeisterim mit A 8. Mit ihrem Leben sei sie zufrieden, sagt sie. Na ja, manches könnte schon besser laufen. Zum Beispiel das mit ihrer Figur. In den Oberschenkeln wird sie immer breiter. Aber man kann im Leben eben nicht alles haben, sagt sie.
Die Tochter ist gegenwärtig auf einem Internat in Mölln. Dort geht es ihr gut. Sagt sie.