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2xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 02.12.2023. Rubrik: Unsortiert


Die zwei Leben meiner Großmutter

Jemand bemerkte, ein Mensch sei erst dann wirklich tot, wenn sich niemand mehr an ihn erinnere. Das hieße ja im Umkehrschluss: Dieser Mensch stürbe dann auch zwei Tode, einen leiblichen und einen virtuellen, gedachten.

Ein kalter Sprühregen hüllt mich ein, sogar die sonst so lauten Krähen auf den kahlen Friedhofslinden schweigen. Ich stehe am Grab der Großmutter, der Geistliche spricht weihevolle Worte. Als sich der Sarg in die Grube senkt, bricht für einen Moment der Boden unter mir weg. Für einen Moment habe ich das Gefühl, in Zukunft als Waise durch die Welt taumeln zu müssen. Die Gewissheit eines fürchterlichen, nicht ersetzbaren Verlustes benebelt mir den Verstand.
Damals war die Großmutter zum ersten Mal gestorben. Das war vor zehn Jahren.
Szenenwechsel.

Deutlich sehe ich, wie die Großmutter die gebratene Ente und den Rotkohl auf den Tisch stellt und mir eine Keule auf den Teller legt. Oder wir sind im Wald, Pilze sammeln. Eine Wolkenstaffel schiebt sich vor die Sonne, es wird dunkel und unheimlich, ich bekomme Angst. Doch da ist die Großmutter. Ich laufe zu ihr hin und werfe mich in ihre Arme, rieche diesen vertrauten Geruch nach Mottenkugeln und Kernseife, und ein tiefes Gefühl der Geborgenheit überkommt mich. Dann wieder sitzt sie an meinem Bett und erzählt mir eine Gutenachtgeschichte. Jetzt beugt sie sich über mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich höre ihre etwas raue Stimme: Schlaf gut, mein Engel.

Die Visionen ist so real, dass ich mir ganz sicher bin: Sie ist ja gar nicht gestorben, da hat jemand dummes Zeug erzählt. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Traum die Realität ist, und die Alltagswirklichkeit, die mich allmählich umgibt, ein böser Traum. Ich bleibe noch etwas liegen, denn ich will die kostbare Traumgewissheit, dass die Großmutter wider alles Geunke noch lebt, nicht zerstören.
Und noch eine andere Episode geht mir nicht aus dem Sinn.

An einem sonnigen Septembervormittag zogen wir los, die Großmutter und ich, zum Drachensteigen. Sie trotz ihrer siebzig Jahre mit noch festem Schritt, ich, an ihrer Seite, kann kaum mitzuhalten.
Als dann der Drachen in die Höhe steigt, glühend im Sonnenlicht – ach, wie wohl ist mir da! Wie kommt mir das Leben so schön vor, die Natur so übervoll an Formen und Farben! Die Großmutter zieht ein weiteres Knäuel Schnur aus der Tasche (denn halbe Sachen liebte sie nicht). Mit einer Hand halte ich den Drachen, mit der anderen umarme ich sie. Habe ich keine Eltern? Doch! Aber die sind weit weg, obwohl wir gemeinsam in einer Wohnung wohnen.
Heute weiß ich, warum sich die Großmutter und ich so nahe standen. Es war dieser unerklärliche soziale Magnetismus, bei dem sich gleich Gepoltes nicht abstößt, sondern anzieht. Anders ausgedrückt: Wir beide waren von der gleichen Art. Sie, immer einen scharfen Witz auf der Zunge, ich, immer einen argen Schabernack im Kopf. Sie eine stramme Fußgängerin, ich ein Wanderer auf weiten Wegen. Sie aus tiefstem Herzen fromm, ich, später, ein arger Gottesleugner. Ja, Gottesanbeter und Gottesleugner sind zwei Seiten derselben Medaille. Was wäre Gott ohne seine Leugner! Doch wenn ich versuchte, ihren Glaubensschatz anzutasten, schüttelte sie nur den Kopf und sagte: „Ach, Jungche!“ Dann schloss sie mich erst in ihre Arme dann in ihre Gebete ein.

Ich weiß, dass ich zwei Leben in mir trage, meines und das zweite Leben der Großmutter, das ihrem ersten stark ähnelt. Und nicht nur in spiritueller Hinsicht. Denn noch spricht sie mit mir, ich höre ganz deutlich ihre Stimme, und der Baum, der mittlerweile über ihrem Grab gewachsen ist, raunt mir neue Gutenachtgeschichten zu. Und manche ihrer Ecken und Kanten besitze ich zudem auch noch . . .
Neuerdings treibt mich der Gedanke um, dass mit meinem Leben auch ihr zweites Leben beendet sein wird. Denn niemand lebt noch, der sie so gut in Erinnerung gehalten hat wie ich. Nun ja, noch ist es nicht so weit. Ich lebe, und nicht schlecht. Aber man weiß ja nie. Denn:

Wer hätt sein Schicksal so in Händen doch,
dass er könnt sagen: Morgen leb ich noch.

Dann wäre die Großmutter ein zweites Mal gestorben und endgültig tot. Und dieser Gedanke macht mich sehr traurig.

counter2xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Jens Richter am 03.12.2023:

Lieber Federteufel,
nachdem ich Deine Geschichte gelesen hatte, kamen auch meine Erinnerungen an meine Großeltern wieder hoch.
In gewisser Weise hast Du recht, mit uns Enkeln wird auch die Erinnerung an die Großeltern verblassen.
Meine Kinder haben zwar eine Urgroßmutter noch kennengelernt, aber gemeinsame innige Erlebnisse hatten nur wir Enkel mit ihr.
Ich hab Deine Geschichte sehr gern gelesen.
Viele Grüße von Jens.





geschrieben von Federteufel am 03.12.2023:

Hallo Jens Richter,
vielen Dank für deine Nachricht.
LG

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