Veröffentlicht: 09.07.2022. Rubrik: Unsortiert
Frauenpower
Die Trockenheit der letzten Wochen veranlasste mich jeden Morgen in unseren Schrebergarten zu fahren, um die Pflanzen zu gießen und zu hacken. Morgens zu gießen und zu hacken hat auch den Vorteil, dass die Population der Nacktschnecken in Grenzen gehalten wird.
Täglich ging ich nach unserem gemeinsamen Frühstück in das Gästezimmer, zog meine Gartensachen an, setzte meine Mütze auf, packte mir die Tageszeitung ein und fuhr mit dem Fahrrad in den Garten. Pünktlich, gegen 12.00 Uhr, war ich wieder zum Mittagessen zu Hause. Meine Frau erledigte während dieser Zeit den Haushalt, kaufte ein und kochte zu Mittag. Schnell hatten wir uns an diesen Rhythmus gewöhnt.
Heute Morgen jedoch war es trüb. Die Wetterapp auf meinen Smartphone zeigte eine Niederschlagswahrscheinlichkeit von 70% an. Das war ein Grund für mich heute nicht in den Garten zu fahren. Während meine Frau die tägliche Hausarbeit verrichtete, wähnte sie mich schon im Garten. Ich aber blieb im Gästezimmer, setzte mich in den Sessel, nahm mir die Tageszeitung und begann zu lesen.
Als der Staubsauger verstummte öffnete sich die Zimmertür. Meine Frau trat ein und fragte erstaunt: „Du hier? Wolltest Du heute nicht…?“
„Nein“, unterbrach ich sie, „ich wollte heute nicht. Es wird regnen.“
Sie sah mich entgeistert an und fragte ungläubig:
„Das weißt Du jetzt von wem?“
„Von meiner Wetterapp. Sie sagt eine Niederschlagswahrscheinlichkeit von 70% voraus“.
„Ach so. Und Du wartest jetzt auf den Regen?“
„Ja“, antwortete ich, „ich warte auf Regen. Er wird auch höchste Zeit, dass es regnet. Und ich werde ihn hier auch begrüßen“, antwortete ich lakonisch. Meine Frau weiß, wenn ich lakonisch antworte, nervt sie. Und sie sah auch, dass ich inzwischen den Sportteil der Zeitung aufgeschlagen hatte. Wenn ich den Sportteil lese, schalte ich ab. Ich höre dann nichts mehr, sondern konzentriere mich auf die Artikel, die im Sportteil stehen und lese diese intensiv. Nervt mich Else, lese ich diese Artikel zweimal. Dieses Verhalten kennt sie sehr gut. Sie versuchte deshalb auf ihre Weise mich zu bewegen das Zimmer zu verlassen.
„Da hast Du wohl recht. Es wird regnen und Regen können wir gebrauchen“, bestätigte sie süffisant meine Feststellung. „Blühen eigentlich schon die Fackellilien?“, fragte sie weiter.
„Was soll diese Frage? Natürlich blühen sie!“, knurrte ich. „Das weißt Du doch.“
„Ja, ich weiß das, aber deine Schwester weiß es nicht“, wendete sie ein.
„Was hat meine Schwester damit zu tun? Es ist mir herzlich egal, ob meine Schwester weiß, dass unsere Fackellilien blühen“.
„Sie hat es erst kürzlich bestritten und glaubt nicht, dass unsere Fackellilien schon blühen“, argumentierte meine Frau weiter. „Oder möchtest Du einen kleinen Familienstreit?“, fragte sie mit einem leichten Unterton, der nahendes Grollen erahnen lies.
„Nein, ich möchte keinen Familienstreit“, erwiderte ich und wollte mich endgültig dem Sportteil meiner Zeitung zuwenden.
„Dann fahr doch bitte in den Garten! Bevor es regnet machst Du ein paar Bilder von unseren Fackellilien und schickst sie deiner Schwester!“.