Veröffentlicht: 14.11.2021. Rubrik: Persönliches
Kurznachhilfe
Marion begann zu weinen. "Ich habe solche Angst!" schniefte sie. Gleich schreiben wir die Lateinarbeit, und ich habe den Stoff nicht kapiert."
Dies war in der 6. Klasse des Gymnasiums. Latein war meine Stärke und Marion so ein wenig mein Schwarm. Jedenfalls hatte es zwischen uns manchmal ein wenig geknistert.
Aus diesen beiden Gründen sagte ich: "Du musst keine Angst haben. Wir können uns das gerne noch kurz zusammen anschauen."
"Wirklich?" fragte sie hoffnungsvoll und hörte dabei auf zu weinen.
"Aber natürlich! Ich setze mich neben dich, und du zeigst mir, was du nicht verstehst."
So machten wir es. Schnell hatte ich herausgefunden, wo ich in der Kürze der Zeit am besten ansetzen konnte: Marion hatte Schwierigkeiten, die Satzteile zu ekennen. Da nannte ich ihr einige Erkennungsmerkmale; dann kam auch schon der Lehrer.
Während der Arbeit sah ich auch immer wieder zu Marion, die schräg vor mir saß. Ruhig und eifrig war sie am Schreiben. Na das sah ja schon mal ganz gut aus. Nachdem die Hefte abgegeben worden waren, fragte ich sie, was sie für ein Gefühl hätte."
"Das ist ganz schwer zu sagen!" erwiderte sie.
Einige Tage später bekamen wir die Arbeit zurück; und Marion brach in einen Jubelruf aus. "2-" verkündete sie laut. "Das ist zwei Noten besser als in der letzten Arbeit. Und das habe ich dem Thomas zu vedanken."
Dabei kam sie zu mir her und strich mir über die Schulter. Vor Freude meinte ich, der Erdboden würde unter mir zerbersten.
Späterhaben wir uns aus den Augen verloren. Aber die Erinnerung an die erfolgreiche Kurznachilfe bleibt.