Veröffentlicht: 04.11.2021. Rubrik: Persönliches
Der Osterhase im Gummibaum
"Ich kann das gerne machen!" hatte ich bereitwillig gerufen. Meine Tante, die ein Stockwerk über uns wohnte, hatte soeben gesagt, dass sie gerne in den Urlaub fahren würde. Aber irgensjemand, so hatte sie dazugesagt, müsse sich in dieser Zeit um ihre Pflanzen kümmern. Da hatte ich gerne zugesagt. Ich war damals vielleicht so 12 Jahre alt.
Meine Tante zeigte mir am Tage ihrer Abfahrt nochmals alles. Sie sagte mir, wo das Gießkännchen steht; und dann gab sie mir den Schlüssel. 14 Tage würde sie jetzt weg sein.
Es waren beständig heiße, trockene Tage, in denen es nicht ein enziges Mal regnete. Der Gartenweg war um die Mittageszeit so heiß, dass man sich fast darauf die Fußsohlen verbrannte. Auf dem schattigen Rasen hinter dem Haus war es angenehmer. Und ich spielte:im Sandkasten, mit dem Westernfort, Federball mit meiner Schwester.
Die Pflicht des Pflanzengießens vergaß ich dabei jedoch nicht. Ungefähr jeden 3. Tag führte mich mein Weg über die erfrischend kühle Treppe hinauf zum ersten Stock.
Herrlich war es, barfuß über die flauschig-weichen Teppiche zu gehen, die meine Tante überall ausgelegt hatte. Dann kam das Gießen dran. Und ich wusste: Auch die Balkonkästen sind jedes Mal dran; sonst würden sie in dieser trockenen Hitze hoffnungslos vertrocknen.
Am ersten Tag war ich mit allem sogut wie fertig. Nun kam noch der in der Ecke stehende Gummibaum an die Reihe. Ich sah ihn an; doch da entdeckte ich mitten in den Blättern etwas, das da eigentlich nicht hingehörte. Ich griff danach; es war eine kleine Schokoladentafel. Weil es durch die geschlossenen Läden in der Wohnung meiner Tante recht kühl war, war die Schokolade nicht zerschmolzen.
Auch an den nächsten "Gießtagen" war immer wieder etwas zu finden: mal auch in den Balkonkästen, mal im Usambaraveilchen, meistens aber im Gummibaum. Es war fast so als sei hier mitten im Sommer der Osterhase zugange. Jedes Mal war ich schon aufs Neue gespannt, ob und wo ich etwas finden würde.
Dann kam meine Tante aus dem Urlaub zurück. Mit herzlichen Dankesworten nahm sie den Hausschlüssel wieder in Empfang. Sie anerkannte, dass die Pflanzen sehr gesund und wohlgenährt aussahen. Und ich sagte schmunzelnd: "Vielen Dank auch dem Osterhasen, der mitten im Sommer so gute Sachen versteckt hat!"
Ob dieser Osterhase meine Tante war; vielleicht noch unterstützt von meiner Mutter...?