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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2021 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 13.11.2021. Rubrik: Menschliches


Die Patriarchin

Alma war seit dem Tode ihres Mannes die Patriarchin der Familie, die aus zwei Söhnen und einer Tochter bestand. Alle, auch die Schwiegerkinder, waren Akademiker.

Entsetzt war Alma daher, als ihre Tochter Clarissa und deren Mann Stephan nach fünfjähriger kinderloser Ehe ein Baby adoptieren wollten. „Tut das nicht! Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden, haben in der Regel keine guten Gene. Das Kind würde nicht in unsere gebildete Familie passen!“

Clarissa und Stephan hörten nicht auf sie und adoptierten die kleine Milena. Alma weigerte sich, sie als Enkelin zu akzeptieren. Auch ihre beiden Söhne sahen sie nicht als Nichte an. Als die Patriarchin vor einem Geburtstagsfest an Tochter und Schwiegersohn schrieb: „Ihr könnt kommen, aber ohne das fremde Kind“, sagten die beiden sich von ihr und dem Rest der Familie los.

Den Eltern war bewusst, dass Milena andere, wenngleich keinesfalls schlechtere Begabungen haben könnte als sie. Tatsächlich stellte sich in der Schule heraus, dass das Mädchen in praktischen Fächern und auch in Mathematik sehr talentiert war, in anderen dagegen nicht. Besonders das Aufsatzschreiben war ihr ein Gräuel. Clarissa und Stephan akzeptierten dies und zwangen sie nicht aufs Gymnasium, sondern rieten ihr, einen guten Schulabschluss zu machen und danach eine Ausbildung zu beginnen.

Da Milena Blumen liebte, wurde sie Floristin und war so erfolgreich, dass ihre Chefin beim Eintritt in den Ruhestand das Geschäft an sie übergab. In der Lokalzeitung stand ein Artikel darüber, den Alma und ihre Söhne gelesen haben mussten, doch keiner von ihnen reagierte.

Über Clarissas Brüder stand wenig später etwas ganz anderes in der Zeitung. Zwar waren die Namen abgekürzt, aber jeder in der Stadt wusste, wer gemeint war. Beide wurden wegen eines Millionenbetrugs zu Haftstrafen verurteilt und mussten den Schaden voll erstatten.

Alma, dies erfuhr Clarissa durch Freunde, war zum Verkauf der Familienvilla gezwungen, um den Söhnen finanziell beizustehen. Sie bereitete ihren Umzug in ein einfaches Altersheim vor – eine Seniorenresidenz konnte sie sich nicht mehr leisten.

Clarissa und Stephan überlegten, ob sie Alma ihre Hilfe anbieten mussten. Schließlich schrieb Clarissa ihr: „Mutter, wir haben von Deinen Problemen gehört. Wir wären bereit, Dir, soweit es uns möglich ist, zu helfen – aber nur unter der Bedingung, dass Du unsere Tochter Milena als Deine Enkelin anerkennst!“ Der Brief blieb unbeantwortet.

Etwa ein Jahr später hatten Clarissa und Stephan gerade eine dreiwöchige Kreuzfahrt begonnen, als eine schon etwas ältere Kundin Milenas Geschäft betrat. Ihre Gesichtsfarbe war hellbraun. „Guten Tag“, sagte sie in akzentfreiem Deutsch, „ich muss leider Blumenschmuck für die Trauerfeier meiner Mutter auswählen.“

Milena kondolierte. Als die Kundin ihr daraufhin den Namen der Verstorbenen nannte, fiel sie fast in Ohnmacht: Es war Alma!

„Verzeihen Sie“, stammelte sie dann, „ich bin so überrascht… ich kannte die Dame vom Hören und wusste nicht, dass sie gestorben ist… und dass sie... dass sie...“

Die Kundin kam ihr zu Hilfe. „Dass sie eine farbige Tochter hatte? Ja, das wusste hier keiner.“ Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass außer ihr und Milena niemand im Raum war, erzählte sie ihr in ungewöhnlicher Offenheit die ganze Geschichte.

Alma, dies erfuhr Milena nun, hatte vor ihrer Ehe eine kurze Affäre mit einem tunesischen Handwerker gehabt. Als sie ihre Schwangerschaft bemerkte, war dieser längst wieder in seiner Heimat. Alma hatte die Tochter in einer anderen Stadt zur Welt gebracht, zur Adoption freigegeben und nie Kontakt zu ihr gesucht. Bis vor kurzem.

„Meine Mutter fühlte sich im Altersheim allein. Ihre beiden Söhne sind im Gefängnis, mit den Schwiegertöchtern und Enkeln versteht sie sich nicht gut. Mit ihrer jüngeren Tochter hatte sie Streit gehabt, worüber weiß ich nicht, und war nicht zum Einlenken bereit. Da fiel ihr ein, dass sie noch eine ältere Tochter hatte. Sie hat mich ausfindig gemacht…“

„Und Sie sind zu ihr gekommen?“, staunte Milena. „Naja, ich dachte, sie hat nur noch kurz zu leben, und wir alle machen schließlich Fehler… Übrigens ging es mir nicht um ein eventuelles Erbe. Da sind nur noch Schulden.“

„Wann ist die Trauerfeier?“, fragte Almas Enkelin die Kundin, die nicht wusste, dass die Blumenhändlerin ihre Nichte war. „In vier Tagen.“

Wie gut, dachte Milena, dass meine Eltern nicht da sind und in einer so kurzen Zeit auch nicht zurückkommen könnten, selbst wenn sie es wollten. Ich werde es ihnen erst nach ihrer Rückkehr erzählen. Und auch ich kann nicht hingehen, da ich in vier Tagen eine Fortbildung habe. Wozu Termine doch manchmal gut sind.

„Dann bin ich selber leider nicht da, aber meine Mitarbeiterin wird sich bestens um alles kümmern. Welche Art von Blumenschmuck darf es denn sein?“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Novelle am 14.11.2021:
Kommentar gern gelesen.
Diese Geschichte habe ich gerne gelesen. Sie könnte die Basis für einen Spielfilm sein.




geschrieben von Christine Todsen am 15.11.2021:

Danke, Novelle, vielleicht meldet sich ja mal ein Filmemacher. Ich überlege gerade schon, welche prominenten Schauspieler/innen wen spielen könnten ;-)

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