Veröffentlicht: 08.10.2021. Rubrik: Menschliches
Vater unbekannt
Tina war überrascht gewesen, als ihre Freundin Esther sie telefonisch gebeten hatte, in der Mittagspause in den Park zu kommen. Sie müsse ihr etwas sehr Wichtiges zeigen.
Die jungen Frauen, beide Anfang zwanzig, kannten sich seit der Schulzeit und arbeiteten in zwei verschiedenen Bürohäusern, die aber beide in unmittelbarer Nähe des Parks lagen.
Als Tina das Firmengebäude verließ, sah sie Esther bereits am Parkeingang stehen. Nach einer kurzen Begrüßung, bei der sie Esthers Nervosität spürte, ließen sich die beiden auf einer Bank unter einer Eiche nieder.
„Tini“, sagte Esther, „du hast mir ja erzählt, dass du nicht weißt, wer dein Vater ist.“
Alarmiert überlegte Tina, worauf die Freundin hinauswollte. Schon vor langer Zeit hatte sie Esther von ihrem familiären Hintergrund erzählt. Tinas alleinerziehende Mutter Nicole hatte als junge Frau ein zügelloses Leben mit Partydrogen und zahlreichen Quickies geführt und wusste tatsächlich nicht, wer der Erzeuger ihrer Tochter gewesen war. Nach Tinas Geburt wandelte die Mutter sich, war heute eher bieder und ermahnte Tina stets, nicht dieselben Fehler zu machen wie sie.
Jetzt holte Esther eine Zeitungsseite aus ihrer Tasche. „Guck dir bitte mal dieses Foto an. Könnte dieser Mann es sein? Ich finde, du gleichst ihm aufs Haar!“
Das Bild zeigte den Inhaber eines Blumengeschäfts in der Innenstadt, der im Rahmen einer Reportage zum Thema Fußgängerzone befragt worden war. Er hieß Frank Neubert und war zusammen mit seiner Ehefrau Carmen fotografiert worden. Konzentriert betrachtete Tina sein Gesicht und sagte schließlich: „Also, ich weiß nicht recht – ich sehe da keine besondere Ähnlichkeit!“
„Ich schon! Dein Gesicht ist ja ein bisschen asymmetrisch – was ich hübsch finde! –, und du kennst halt nur dein Spiegelbild. Ich sehe dich so, wie ich auf dem Foto diesen Mann sehe. Und da springt mir die Ähnlichkeit direkt ins Auge!“
Als Tina sich nicht überzeugen ließ, wechselte Esther schließlich das Thema, und beide begannen, ihr mitgebrachtes Obst zu essen. Zum Glück ahnte Tina nicht, dass ihre Freundin die Sache keinesfalls auf sich beruhen lassen wollte. Esther wusste nämlich aus dem Artikel, dass Carmen Neubert, die normalerweise zusammen mit ihrem Mann im Blumenladen tätig war, übers Wochenende mit ihrem Frauenverein verreist sein würde…
*
Die Fußgängerzone war am frühen Samstagmorgen noch fast leer. „Diesen hier, bitte.“ Esther reichte Frank Neubert einen Blumenstrauß über die Ladentheke und zückte ihr Portemonnaie. Er war tatsächlich allein. Nachdem der Kauf getätigt worden war, hielt sie Neubert ein Foto von Tinas Mutter hin, das sie aus einem Gruppenbild ausgeschnitten hatte. „Kennen Sie diese Dame?“
Stirnrunzelnd betrachtete er das Foto. „Nein“, sagte er dann. „Warum, was ist mit ihr?“
Esther gab nicht auf. „Vielleicht haben Sie sie vor rund zweiundzwanzig Jahren gekannt? Ich habe leider kein Foto aus jener Zeit. Aber sie sieht noch immer recht jugendlich aus, sodass sich ihr Aussehen wohl nicht sehr verändert hat. Sie heißt Nicole Hermanns.“
Neubert wurde langsam ungeduldig. „Nie gehört. Wird sie vermisst oder was ist los? Kann die Polizei nicht helfen?“
„Nein“, antwortete Esther, gab sich dann einen Ruck und sagte: „Die Tochter von Nicole Hermanns, meine Freundin, weiß nicht, wer ihr Vater ist. Und sie ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Völlig verdutzt schaute der Blumenhändler Esther an. Dann sagte er: „Sorry. Ich kenne die Dame wirklich nicht.“
Seufzend verabschiedete Esther sich. Auf dem Weg zum Ausgang fiel ihr Blick auf einen eingerahmten Zeitungsausschnitt an der Wand. Sie begann, ihn zu lesen und das Foto anzuschauen.
„Gehen Sie bitte! Ich halte Ihnen die Tür auf!“ Frank Neubert war sichtlich nervös geworden. Als die Besucherin das Geschäft verlassen hatte und nicht mehr zu sehen war, griff er sofort zu seinem Handy und tippte eine Nummer ein. „Ralph? Pass bloß auf, wenn nachher eine junge Frau in deinen Laden kommen sollte. Sie hat den Tageblatt-Artikel hier an der Wand gesehen, wo drinsteht, dass du mein Zwillingsbruder bist und wo du dein Geschäft hast. Sie kennt eine Nicole Hermanns, deren Tochter mir angeblich gleicht. Diese Tochter weiß nicht, wer ihr Vater ist…“
*
Esther steuerte das Lebensmittelgeschäft von Ralph Neubert an. In der Hand hielt sie noch immer die Blumen, die sie bei Ralphs Zwillingsbruder gekauft hatte, um mit diesem ins Gespräch zu kommen. Jetzt überlegte sie, was sie Ralph sagen sollte. Falls jemand anderes im Laden war, würde sie gar nicht reden und nur einkaufen.
Kaum hatte sie das Geschäft betreten, als der Inhaber auf sie zukam. Er glich seinem Bruder – und Tina – wie ein Ei dem anderen. „Guten Tag“, begrüßte er sie freundlich, „waren Sie soeben bei meinem Zwillingsbruder Frank?“
Esther war sprachlos und konnte nur nicken. „Mein Bruder“, fuhr Ralph fort, „hat mir telefonisch mitgeteilt, dass Sie wohl kommen würden. Sie kennen also eine Frau Hermanns, deren Tochter meinem Bruder gleicht – und somit auch mir?“
„Ja! Die Tochter heißt Tina. Wir sind miteinander befreundet. Hier ist ein Foto von ihr, und hier eins von ihrer Mutter!“
Ralph betrachtete die Bilder lange. Sichtlich gerührt sagte er dann: „Ich erinnere mich an Nicole. Wir hatten aber keine feste Beziehung. Es gab, nun ja, andere Männer…“
„Heute“, sagte Esther, „ist Frau Hermanns ganz anders als früher. Sie ist sehr verantwortungsbewusst geworden.“
Wieder nahm Ralph das Foto von Tina zur Hand. „Die Ähnlichkeit fällt ja tatsächlich auf. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich herausstellen sollte, dass Tina meine Tochter ist. Meine Frau konnte keine Kinder bekommen, und vor vier Jahren ist sie verstorben. Wir waren nur sechs Jahre verheiratet… Weiß Tina, dass Sie ihren Vater ausfindig machen wollen?“
„Nein, sie ahnt nichts davon, und ihre Mutter auch nicht“, antwortete Esther.
„Am liebsten hätte ich so schnell wie möglich Gewissheit. Wohnt Tina noch bei Nicole?“
„Ja. Wissen Sie was? Ich informiere jetzt zuerst Tina. Die kann es ihrer Mutter sagen. Und sobald ich weiß, wie die beiden reagiert haben, rufe ich Sie an. Gegebenenfalls teile ich Ihnen dann auch die Adresse mit.“
Ralphs Blick fiel auf den Blumenstrauß. „Frank sagte mir, dass Sie die Blumen bei ihm gekauft haben. Falls Sie das nur getan haben, um mit ihm reden zu können, dann würde ich sie Ihnen gern abkaufen. Es könnte ja sein, dass ich schon heute Nicole und Tina besuche…“