Veröffentlicht: 24.01.2020. Rubrik: Spannung
Lotte
Neben einem Waldweg im Rheinland, unweit des Heimatorts von Kommissar Lukas Kohlert, hatten Spaziergänger eine Tote entdeckt. Sie war erwürgt worden.
Kommissar Kohlert vermutete, dass die etwa 25-Jährige nicht am Fundort zu Tode gekommen war. Ganz in der Nähe lag ein Autobahnrastplatz. Der Täter mochte sie entweder dort oder bereits vorher umgebracht und dann im Wald abgelegt haben.
Die Tote war vollständig bekleidet, trug aber keinerlei Ausweispapiere bei sich. In einer Ecke ihrer Hosentasche fand die Polizei lediglich einen zerknüllten Zettel, auf dem in Computerschrift und Großbuchstaben LOTTE stand.
Kohlert betrachtete ihn genauestens. „Wahrscheinlich wusste der Täter nichts von diesem Zettel, sonst hätte er ihn verschwinden lassen“, sagte er zu seinem Assistenten. Nachdenklich fügte er hinzu: „Leider bedeutet der Zettel nicht automatisch, dass die Tote Lotte hieß. Sie war ja noch jung, und der Name ist schon lange nicht mehr gebräuchlich.“
„In einigen Ländern gibt es ihn noch, glaube ich. Wenn sie zum Beispiel Dänin oder Niederländerin war...“
„Ja, das ist natürlich möglich. Schade, dass man dem Zettel überhaupt nichts entnehmen kann. Wäre der Name mit der Hand geschrieben, könnte man einen Schriftsachverständigen fragen, woher der Schreiber oder die Schreiberin kam. Die Schulschriften der Staaten sind ja unterschiedlich.“
*
Fünf Tage später tappte Kommissar Lukas Kohlert immer noch im Dunkeln. Die Tote, der man provisorisch den Namen Lotte gegeben hatte, war nach wie vor unidentifiziert, und von dem Täter gab es nicht die allergeringste Spur.
Das Handy des Kommissars klingelte. Überrascht sah er auf dem Display den Namen seines Bruders Oliver. Mit ihm hatte er nur selten Kontakt. Die beiden Brüder ähnelten sich äußerlich, aber keinesfalls im Charakter. Während Lukas ein Kunst- und Literaturfreund war und aus Umweltschutzgründen stets mit der Bahn in den Cuxhaven-Urlaub fuhr, galt die Leidenschaft des Büroangestellten Oliver vor allem dem Fußball sowie Autos.
Nur zögernd nahm der Kommissar das Gespräch an. „Hallo Bruderherz“, begrüßte Oliver ihn fröhlich, „in der Zeitung steht heute, dass du noch immer nicht weißt, wer die Tote ist, der ihr den Namen Lotte gegeben habt. Ich hab’s ja schon immer gesagt. Du solltest dich mit Fußball befassen und Auto fahren!“
Lukas Kohlert war fassungslos. „Bist du verrückt? Was für einen Quatsch redest du da? Jemand muss schließlich diesen Job hier machen!“
„Ruhig, Bruderherz, ruhig, genau deshalb gebe ich dir ja diesen Rat. Wenn du etwas von Fußball verstündest, wären dir die Sportfreunde Lotte ein Begriff. Und wenn du mit dem Auto statt mit der Bahn nach Cuxhaven führest, sähest du das Autobahnkreuz Lotte/Osnabrück. Lotte ist nicht nur ein Frauenname, sondern auch der Name einer westfälischen Gemeinde im Kreis Steinfurt. Vielleicht stammte das Opfer von da. Ruf mal deine dortigen Kollegen an!“
*
„Oliver“, sagte der Kommissar, als er seinen Bruder zehn Tage später anrief, „dank deinem Hinweis ist der Fall jetzt geklärt! Die Tote kam tatsächlich aus Lotte in Westfalen. Sie hatte mit ihrem Partner eine Autoreise durch Spanien machen wollen. Daher war sie noch nicht vermisst worden. Aber schon hier im Rheinland gerieten sie und ihr Partner dermaßen in Streit, dass er sie erwürgte und die Leiche in unserem Wald ablegte. Er fuhr dann ungerührt weiter nach Spanien. Dort wurde er von der Polizei geschnappt und sitzt jetzt in Auslieferungshaft.“
Oliver war begeistert. „Toll, Bruderherz! Jetzt musst du aber auch dranbleiben. Lies jeden Tag die Fußballberichte in der Zeitung und fahr Auto statt Bahn!“
„Also“, erwiderte Kommissar Lukas Kohlert, „so einmal in der Woche kann ich meinetwegen den Sportteil lesen. Aber mit dem Auto in den Urlaub fahren – nein, so ein Umweltferkel bin ich nicht. Wenn die Frau aus Lotte und ihr Partner mit der Bahn gefahren wären, würde sie wohl heute noch leben, denn aufgrund der sozialen Kontrolle durch die anderen Passagiere ist die Hemmschwelle für Tötungsdelikte in der Bahn wesentlich höher!“