Veröffentlicht: 21.12.2019. Rubrik: Nachdenkliches
Ein gendergerechtes Weihnachtslied
Ist es eigentlich schon mal jemandem aufgefallen? Bis auf Maria (die allerdings eine zentrale Stelle einnimmt) sind sämtliche Personen im Krippengeschehen von Bethlehem männlichen Geschlechts! Das Jesuskind, Josef, die drei Weisen aus dem Morgenland... Und natürlich die Hirten. Oder?
Der Kapellmeister Carl Riedel muss dies anders gesehen haben. Er verfasste vor 1868 eine freie Übertragung des tschechischen Liedes Nesem vám noviny, die noch heute zu den beliebtesten deutschen Weihnachtsliedern zählt. Ihre erste Zeile lautet: Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n!
Leider kann ich kein Tschechisch, aber aufgrund meiner Kenntnisse einer anderen slawischen Sprache und dank des Online-Übersetzers glaube ich sagen zu können, dass das Original nicht speziell von Frauen spricht. Der Ruhm für die gendergerechte Ausdrucksweise gebührt also allein Carl Riedel.
Viele werden jetzt einwenden, er habe wohl nur einen Reim auf „schau‘n“ in der nächsten Zeile gesucht. Aber da hätte er andere Möglichkeiten gehabt, z.B. das Ersetzen von „schau‘n“ durch das gut reimbare „seh’n“. Meiner Meinung nach wurde die Formulierung „Männer und Frau’n“ bewusst gewählt.
In der „Bibel in gerechter Sprache“ von 2006 heißt es in der Weihnachtsgeschichte (Lukas 2): „In jener Gegend gab es auch Hirten und Hirtinnen.“ Diese Übersetzung ist umstritten, aber tatsächlich hat der Kapellmeister Riedel schon im 19. Jahrhundert genau dasselbe ausgedrückt. Ob man bei einem Weihnachtslied nicht so genau auf den Text achtet?
Heutzutage heißt es in Stellenanzeigen schon nicht mehr „m/w“, sondern „m/w/d“. Das wusste Carl Riedel natürlich noch nicht. Sonst hätte er wahrscheinlich geschrieben: „Kommet, ihr Hütenden!“