Veröffentlicht: 11.12.2019. Rubrik: Spannung
Das Traumland
Noch ein halbes Jahr. Dann gehe ich in Pension und ziehe in mein Traumland.
„Warum denn ausgerechnet dorthin, Petra?“, fragen mich alle. „Das ist doch ein ziemlich langweiliges Land. Und die Sprache soll so kompliziert sein.“ Ich lächele dann nur und wechsele das Thema.
Stimmt, die Sprache ist schwer, aber zum Glück bin ich linguistisch sehr talentiert. Als ich mich vor zwei Jahren spontan entschloss, in jenes Land zu ziehen, habe ich sofort mit dem Erlernen der Sprache begonnen. Jeden Urlaub verbringe ich seitdem in meiner zukünftigen Heimat und kann mich jetzt schon fließend mit den Leuten unterhalten. Auch bereite ich alles für den Umzug vor.
„Ich verstehe dich wirklich nicht, Petra“, sagte vorige Woche meine Freundin Anita. „Sicher, du hattest es in deiner Ehe nicht leicht, aber dein Mann ist doch schon seit fast zwanzig Jahren tot. Du warst nie schwer krank, hast keine finanziellen Sorgen. Dass du kinderlos bist, ist dir doch sogar recht. Du könntest hier als Pensionärin ein schönes Leben führen – stattdessen ziehst du in dieses abgelegene Land.“ Sie hielt kurz inne und fragte dann: „Steckt etwa eine Liebesgeschichte dahinter?“ Lachend schüttelte ich den Kopf.
Es ist gut, dass niemand den Grund ahnt. Erst wenn ich mich in meinem Traumland niedergelassen habe, werde ich darüber sprechen können. Oder zumindest wäre es nicht mehr schlimm, wenn jemand den Grund herausfände.
Mein Entschluss zum Umzug stand fest, nachdem ich vor zwei Jahren in einem Zeitungsartikel gelesen hatte, dass in jenem Land ein Gesetz geändert worden war.
Meine Gedanken waren zurückgeschweift. Der Arzt hatte einen natürlichen Tod attestiert. Die Einäscherung ging problemlos vonstatten. Mein erwachsener Stiefsohn allerdings guckte mich manchmal merkwürdig an, und einmal sah ich, dass er nach Vergiftungssymptomen gegoogelt hatte.
Gesagt hat er nie etwas, und jetzt haben wir keinen Kontakt mehr. Aber man kann nie wissen. Daher ziehe ich nun in mein Traumland. Der sogenannte Haustyrannenmord wurde dort strafrechtlich dem Totschlag gleichgestellt und verjährt nach zwanzig Jahren.