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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2019 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 26.12.2019. Rubrik: Lustiges


Im pazifischen Ring wäre das nicht passiert

Kevin und Chantal wollen Eis essen. Auf dem Weg zur Eisdiele kommt ihnen die alte Frau Berg entgegen und fängt wie immer sofort an, von ihrem Kanarienvogel zu erzählen. Chantal hört höflich zu, aber Kevin sagt nach drei Minuten entnervt: „Wir wollen Eis essen!“ Frau Berg strahlt: „Oh, danke, Eis esse ich für mein Leben gern!“

SatirepatzerSatirepatzerDem Paar bleibt nichts anderes übrig, als die Nachbarin mitzunehmen und ihr Eis zu spendieren. Eine volle Stunde später, als Frau Berg zwei Portionen Eis verspeist und mindestens zwanzig Kanari-Anekdoten zum Besten gegeben hat, verabschiedet sie sich endlich. Kevin und Chantal sind sich anschließend einig: „Im pazifischen Ring wäre das nicht passiert!“

Wahrscheinlich werden 98 bis 100 Prozent der Leser diesen Satz nicht verstehen, daher will ich ihn erklären. Kevin und Chantal sind – anders als vorurteilsbehaftete Mitmenschen bei ihren Namen vermuten könnten – Linguisten und haben sich in ihrem Studium unter anderem mit dem pazifischen Ring befasst. So bezeichnen die Sprachwissenschaftler Balthasar Bickel und Johanna Nichols (siehe Link unten) Südostasien, Ozeanien und die Pazifikküste von Nord- und Südamerika.

Die meisten der dortigen Sprachen, vor allem die australischen und südamerikanischen, unterscheiden zwischen inklusivem und exklusivem Wir (https://de.wikipedia.org/wiki/Inklusives_und_exklusives_Wir). Soll bedeuten: sie haben unterschiedliche Wörter für „wir“, je nachdem, ob die angesprochene Person ein- oder ausgeschlossen ist.

Hätten die drei in einer solchen Sprache kommuniziert, dann hätte Kevin gegenüber Frau Berg das exklusive Wir benutzt, und diese wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sie könne mitgemeint sein.

Außer im pazifischen Ring gibt es diese Unterscheidung auch anderswo, insgesamt in 40 Prozent der Sprachen der Welt. Leider nicht in unserer. Viele peinliche Situationen ließen sich dadurch vermeiden. Wer dachte nicht schon einmal: „Wie drücke ich mich nur aus, damit er/sie weiß, dass das ‚wir‘ nicht für ihn/sie gilt?“

Das Fehlen der Unterscheidung zwischen inklusivem und exklusivem Wir im Deutschen ist in der Tat äußerst unpraktisch und beklagenswert. Es sei denn, man profitiert davon. So wie Frau Berg.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 30.12.2019:

Ich finde es immer wieder toll, wieviel man aus deinen Geschichten mitnehmen kann. Das exklusive und inklusive "Wir" müsste es hier auch geben. Ich habe auch die Briten schon oft beneidet, weil es bei ihnen auch zwei Ausdrücke für "sie" gibt: "they" und "she". Im Deutschen kann man sich da manchmal auch missverständlich ausdrücken.




geschrieben von Christine Todsen am 30.12.2019:

Vielen Dank! Ja, SIE kann sogar dreierlei bedeuten, außer „she“ und „they“ auch noch „you“ (Höflichkeitsform, großgeschrieben). In Sätzen mit diesem „Sie“ versuche ich immer, das Wort nicht an den Anfang zu setzen, denn da werden ja ALLE Wörter großgeschrieben. Also nicht: „Sie hatten hoffentlich eine gute Reise“, sondern „Hoffentlich hatten Sie…“ – Trösten können wir uns aber damit, dass die deutsche Orthographie ungleich phonetischer ist als die englische, siehe z.B. die unzähligen Aussprachemöglichkeiten von -ough: https://en.wikipedia.org/wiki/Ough_(orthography)




geschrieben von ehemaliges Mitglied am 16.01.2020:

echt interessant. Da haben WIR ja mal wieder was gelernt ...




geschrieben von Christine Todsen am 16.01.2020:

Vielen Dank! Ich frage mich gerade, ob dieses Wir im Kommentar inklusiv oder exklusiv ist. Wenn es sozusagen von einem Vertreter der Leser an mich als Schreiberin gerichtet ist: exklusiv. Aber auch ich habe die Sache ja erst lernen müssen, und daher könnte das Wir auch inklusiv sein. Manchmal ist es durchaus praktisch, wenn eine Sprache diesen Unterschied NICHT beachten muss…

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