Veröffentlicht: 26.12.2019. Rubrik: Lustiges
Im pazifischen Ring wäre das nicht passiert
Kevin und Chantal wollen Eis essen. Auf dem Weg zur Eisdiele kommt ihnen die alte Frau Berg entgegen und fängt wie immer sofort an, von ihrem Kanarienvogel zu erzählen. Chantal hört höflich zu, aber Kevin sagt nach drei Minuten entnervt: „Wir wollen Eis essen!“ Frau Berg strahlt: „Oh, danke, Eis esse ich für mein Leben gern!“
Dem Paar bleibt nichts anderes übrig, als die Nachbarin mitzunehmen und ihr Eis zu spendieren. Eine volle Stunde später, als Frau Berg zwei Portionen Eis verspeist und mindestens zwanzig Kanari-Anekdoten zum Besten gegeben hat, verabschiedet sie sich endlich. Kevin und Chantal sind sich anschließend einig: „Im pazifischen Ring wäre das nicht passiert!“
Wahrscheinlich werden 98 bis 100 Prozent der Leser diesen Satz nicht verstehen, daher will ich ihn erklären. Kevin und Chantal sind – anders als vorurteilsbehaftete Mitmenschen bei ihren Namen vermuten könnten – Linguisten und haben sich in ihrem Studium unter anderem mit dem pazifischen Ring befasst. So bezeichnen die Sprachwissenschaftler Balthasar Bickel und Johanna Nichols (siehe Link unten) Südostasien, Ozeanien und die Pazifikküste von Nord- und Südamerika.
Die meisten der dortigen Sprachen, vor allem die australischen und südamerikanischen, unterscheiden zwischen inklusivem und exklusivem Wir (https://de.wikipedia.org/wiki/Inklusives_und_exklusives_Wir). Soll bedeuten: sie haben unterschiedliche Wörter für „wir“, je nachdem, ob die angesprochene Person ein- oder ausgeschlossen ist.
Hätten die drei in einer solchen Sprache kommuniziert, dann hätte Kevin gegenüber Frau Berg das exklusive Wir benutzt, und diese wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sie könne mitgemeint sein.
Außer im pazifischen Ring gibt es diese Unterscheidung auch anderswo, insgesamt in 40 Prozent der Sprachen der Welt. Leider nicht in unserer. Viele peinliche Situationen ließen sich dadurch vermeiden. Wer dachte nicht schon einmal: „Wie drücke ich mich nur aus, damit er/sie weiß, dass das ‚wir‘ nicht für ihn/sie gilt?“
Das Fehlen der Unterscheidung zwischen inklusivem und exklusivem Wir im Deutschen ist in der Tat äußerst unpraktisch und beklagenswert. Es sei denn, man profitiert davon. So wie Frau Berg.