Veröffentlicht: 29.12.2021. Rubrik: Kürzestgeschichten
Silvester
Silvester
Sie stand schon da, in der offenen Haustür, Carmen, das Mädchen mit der Jungenlatzhose. Diese Hose trug sie immer. Ihr Haar war lockig und braun. Ihre Mutter freute sich über ihr Mädchen, ihr Vater wollte lieber einen Sohn. Carmen war vier Jahre, ich ein Jahr jünger. So lässig am Türrahmen angelehnt meinte sie: „Heute ist Silvester.“ Ein kurzer Blick von mir und eine knappe Antwort: „Nein!“
Ohne mich weiter zu beachten, sagte Carmen: „Doch heute ist Silvester. Da ich keinen Schimmer hatte, was Silvester sein könnte, ich aber wusste, dass Carmen viel Unfug erzählte, hielt ich mich an meine Version. „Nein!“ Eigentlich bin ich nur nach draußen gegangen, um mich mit meinem Freund Helge zu treffen, der war ein Jahr älter als ich und groß und stark. Jetzt stand ich hier mit Carmen. Es war kalt, auf der Haustürscheibe wuchsen Eisblumen.
Sie sah mich eindringlich an, dann sah sie zu Boden. Dort stand ein Topf. Vermutlich war der aus der Küche ihrer Mutter. Ein blauer Emaille-Topf, an der Seite war die Farbe schon etwas abgeplatzt. Carmen hob den Topf an und öffnete den Deckel. Erst jetzt sah ich, dass sich Sand darin befand und eine Schaufel. Den Deckel warf sie achtlos in den Vorgarten. „Doch heute ist Silvester!“, meinte sie wieder und schaufelte den Sand bedächtig auf den Boden. Ich lehnte mich an den Türrahmen und überlegte nur kurz: „Nein, heute ist kein Silvester.“
Von drinnen aus dem Flur hörte man geschäftiges Treiben. Irgendwie schienen heute alle Bewohner des Hauses beschäftigt zu sein. Wir wohnten am Ende des langen Flurs, Carmen am Anfang. „Doch ist es! Meine Mutter kocht schon und mein Vater hat Sekt gekauft, den trinkt man an Silvester!“ Sie schaufelte weiter den Sand aus dem Topf. Mir war nicht klar, was Sekt ist, folglich sagte ich einfach: „Na und?“ Carmen sah mich an, ihre Augen wurden zu Schlitzen, ihr Mund ein schmaler Streifen. „Meine Mutter kocht jeden Tag und wir trinken immer Sekt“, erklärte ich ihr, obwohl mir nicht bewusst war, was ich da sagte. Insgeheim hoffte ich, sie würde einfach gehen. „Und doch ist heute Silvester!“ Carmen stampfte mit dem Fuß auf den Boden und schüttet den restlichen Inhalt des Topfes aus. Von weiten sah ich meinen Freund, Helge, kommen. „Nein! Heute ist kein Silvester!“, machte ich ihr klar. Das war der Augenblick, an dem ich etwas Blaues auf mich zukommen sah. Es traf mich mit voller Wucht an der Augenbraue, durch einen roten Schleier bekam ich mit das Helge schreiend zurücklief. Kurz darauf erschien meine Mutter, nahm mich auf den Arm und rannte mit mir in unsere Wohnung. Nachdem sie mich verarztet hatte, musste ich ins Bett. Wie durch Watte hindurch bekam ich mit, dass sie Carmens Mutter wohl ein paar ernste Worte sagte. Die Narbe im Gesicht, von diesem 31. Dezember ist bis heute geblieben.