Veröffentlicht: 01.11.2021. Rubrik: Fantastisches
Mutter und George
Mutter und George (Kurzgeschichte vom 1.11.21 Allerheiligen)
Heute ist einfach alles anders. Der Morgen war noch fast wie immer. Es nieselt aus niedrigen Wolken, kein Nebel und der Wind weht kaum. So machen wir uns auf den weiten Weg. Einige Stunden wird es dauern, schon ohne Pausen.
In einer wackelig alten Kutsche werden nämlich meine beiden Geschwister und ich gemeinsam mit Vater zur Riesenstadt London fahren.
Die Kutsche fährt täglich von London her und wieder zurück, sagte Vater letzten Monat und heute seien eben wir einmal an der Reihe.
Das Gesicht des jungen Kutschers erinnert mich an eine kurvenreiche Baumrinde. Nachdem wir unser Gepäck verstaut haben, schließen wir brav die Türen von innen und hören den Ruf des Horns zur Abfahrt. Es quietscht und rumpelt, scheppert und kracht zwischendurch; das kann ja eine schöne Reise werden!
Anfangs war es noch recht still auf der matschigen Straße hinaus aus unserem Ort. Manchmal rennen uns bellende Straßenhunde hinterher und jaulen, wenn sie zurückbleiben, wie einsame Wölfe nachts in den Wäldern. Aus der Ruhe bringen lässt sich das schwarze Pferd aber nicht. »George« heißt es bestimmt, meint Vater; jeder, der so heißt, sei von Natur aus »seelenruhig«. Weiter fragen wir nichts.
Wir müssten zu Fuß marschieren und unsere Koffer und Taschen schleppen, wenn die Achsen brechen würden. Oh je! Der Kutscher hetzt ab jetzt sein fahrendes Haus durch die Landschaft! Und wir sitzen darin! Vielleicht freut er sich auf sein wahres Zuhause irgendwo in London.
Bisher kannten wir unsere Hauptstadt nur aus Erzählungen der Erwachsenen. Wir stellten es uns wunderbar aufregend vor und zugleich fühlte es sich ein bisschen beängstigend an. Und dort dürfen wir demnächst wohnen! Sagenhaft! Es wartet ein neues Zuhause auf uns. Ja, wir wissen, dass wir unser geliebtes Bordon verlassen - müssen, weil das seinen traurigen Grund hat, aber wir freuen uns auch auf das Neue! Stimmt! Lasst uns fröhlich sein! Sollen wir etwas Heiteres singen? Keiner antwortet. Jetzt also nicht, dann eben später.
Schon auf dem Weg in die Nähe Londons - die Bäume wie unwirkliche Gestalten und die Felder mit braungrauen statt grünen Farben wie bei uns. Der Morgennebel nimmt zu. Fremd und fremder, so erscheint mir alles. Kalt und kälter! Irgendwie genau so wie erst in dieser Kutsche. »Jetzt beschützt uns dieser schäbige Holzkasten auf Rädern vor diesem Draußen!«, beruhigt uns Vater, wobei er nicht bemerkt, dass unser Bruder längst an seiner Seite lehnend einschlief.
Vater blickt seit Beginn der Reise meistens zu den Fenstern hinaus. Mehr schweigend. Meine Schwester versucht mir das zu erklären: »Vater erfreut sich an der neuen Landschaft!« Aber ich sehe immer mehr trüben Nebel. Mehr braun und grau oder grau und braun...
Dass mein Vater ständig vor sich hin lächelt, wundert sich auch ein wenig meine Schwester. Und mir ist es einfach viel zu schaukelig und kalt; eiskalt, dabei kann ich nicht einschlafen. Noch nie! Mein Vater lächelt seit unserem Unglück selten und das Lachen verlernte er sogar. Aber wir können ihn verstehen. Früher war eben auch das anders. Wir weinen ja auch oft und heimlich. Deshalb sitzen wir heute endlich hier.
»Hat jemand Hunger?«, fragt Vater uns betont freundlich. Unser Bruder erwacht bei solchen Fragen immer augenblicklich und ruft »Hier!«. Er meint damit natürlich »ich«, aber Mutter brachte ihm dieses Wort bei, weil er der Kleinste in der Familie ist, sprach sie. Sie war eine...
»Nicht aus dem Fenster schauen!«, schreit meine Schwester plötzlich, zieht die Vorhänge mit Gewalt zu – und niemand von uns sieht mehr hinaus. Wir sehen uns an und sagen nichts zu Vaters Tränen auf seinen Wangen. »Schmeckt gut!«, flüstert unser Kleinster, während er die Bissen vom Brot kaut. Vater lächelt ihn kurz an.
»Geschieht das noch öfter auf der Fahrt?«, fragt meine Schwester vorsichtig. Vater erwidert ihr, dass es zwar viele Dörfer seien, durch die die Kutsche fahren würde, aber nicht immer käme sie an den... wirklich nicht jedes Mal!
»Ist es noch weit?«, unterbreche ich ihn, denn wir wissen ja, was wir vereinbarten, und meine Schwester weiß nun, was sie von ihm wissen wollte.
»Es dauert schon noch einige Zeit, doch werden die Straßen allmählich besser und voller. Das Kutschenfahren wird langsam, sanft und gemütlich. Schlaft ruhig und träumt etwas Schönes von unserem neuen Haus! Ich versuche es jetzt auch!«, erbittet sich Vater.
Die Zeit vergeht, die Fahrt wird angenehmer, draußen der Nebel ohne kalte Regentropfen dichter, so dass wir tatsächlich einnicken und das, was Vater dort draußen nicht entdecken soll, auch wir nicht entdecken. Gut so.
Die Kutsche scheint unendlich langsam anzuhalten und George wiehert von höchster Stimme hinab in die Tiefe, als ob auch er zu schlafen beginnt...
Ich sehe das neue Haus, zwei Hände voll Menschen stehen davor. Es ist aus Holzbalken gebaut. Und ein großer Hund hockt daneben. Mein Hund muss es sein.
»So etwas erkennst du mit Leichtigkeit an den Augen!«, verkündet meine Mutter.
Ich sehe freudestrahlend in die andere Richtung, sehe stoppeliges Feld an aufgewühltem Feld, nur selten entfachte Bäume, ein wenig klobige Büsche, sehe starke Mauern und bald dahinter eine Burganlage, weit und mächtig, glaube ich. Und etwas entfernt weiße Schafe und schwarze Ziegen vor den dunkelgrauen Kästen.
Wir fliegen über das satte Gras dahin. Einzelne Häuser nähern sich uns. Das sind sie also. Wir müssen da sein, wie Vater es uns voraussagte. Aber wo ist er? Ihn sehe ich nicht. Es kracht so gewaltig, dass meine Ohren schmerzen, meine Zunge schweigt.
Müde und erschöpft bin ich, als ich aus der Kutsche steigen will. Aber die Tür zu meiner Seite hin lässt sich nicht öffnen, sie klemmt wohl. Vater schläft und mein kleiner Bruder lacht noch.
»Steig´ bei mir aus!«, fordert mich unsere Schwester auf, aber das will ich nicht, weil ich doch kein Mädchen bin. Sie sagt, dass unser Haus zahllose Fenster habe, dass es wie eine Festung aus Stein auf sie wirke. Alles ist so anders als zu Hause. Sie fürchte, dass uns unser Haus zerdrücken werde. Oh je!
Sehr windig ist es, alles strömt so irgendwie um mich herum und ist unendlich nass. Es rauscht und rauscht um mich herum. Was ist um mich herum? Warum schweigt es mich so an?
Da schwimmt die Baumrinde an mir vorbei. Erschrocken klammere ich mich an meine Schwester, doch sie glitscht mir aus den Armen. Und unser beider Bruder kauert auf der Holzbank mit den niedlichen Händen vor seiner Brust, als ob er bete. Kein Wort kommt über seine Lippen. Wo ist unser Vater?
Da öffnet sich aus tiefer Dunkelheit ein unendlich weites Tor vor meinen Augen. Lichtstrahlen blenden mich so stark, dass ich die riesige Gestalt, die sich mir nähert, nicht erkennen kann. »Herzlich willkommen, mein Lienhardt!«, grüßt sie mich mit der liebevollen Stimme meiner Mutter. Ich soll das wohl sein.
»Aleidis und ich sind kurz vor dir angereist. Mutter ahnte schon, dass Elias und du etwas Verspätung haben werdet. Ihr seid ja die erdverbundenen Mutigsten aus ihrem Leib!«, das ist die Stimme Vaters aus dem Irgendwo. Mutter ruft noch: »Seht, ist das nicht unser Elias, der von dort hinten zu uns her läuft?!«
»Ja, das ist er, Mutter! So etwas erkennst du mit Leichtigkeit an den Augen!« antworte ich glücklich. Und alle lachen sie über mich, doch ich weiß nicht warum.
»Friedhof« habe ich ja nicht gesagt, dieses uns verbotene Wort, damit Vater nicht in seiner Trauer weinend zergeht. Also ich werde darüber nachdenken, denke ich, als sich das gewaltige Tor hinter uns schließt.
Und draußen in London war wieder einmal eine ortsbekannte Reisekutsche im dichten Nebel versehentlich die Böschung hinunter in die reißende Themse gerast und in tausende Stücke zerborsten. Niemand überlebte, nur das schwarze Pferd mit übermenschlicher Geduld konnte ans Ufer gerettet werden. Es heißt ganz bestimmt »George«.
ENDE