geschrieben 1990 von Rautus Norvegicus (Rautus Norvegicus).
Veröffentlicht: 24.02.2025. Rubrik: Spannung
In letzter Minute - (ein Drama)
----Lest alternativ meine Erzählung: In letzter Minute (kein Drama), damit ihr eure gute Laune behaltet-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
„Ha, ha, guckt mal die Bohnenstange da vorn!“ Ein kleiner Junge auf dem Schulhof hatte es mit schriller Stimme gerufen und dabei mit seinem schmutzigen Zeigefinger auf auf ihn gedeutet. Karl wurde feuerrot, als er die Blicke der anderen Schulkinder auf sich gerichtet fühlte.
Heute war sein erster Schultag und er hatte geahnt, dass so etwas passieren würde. Schon im Kindergarten hatte seine Körpergröße von 1,85 Meter hämische Kommentare nicht nur unter den Winzlingen hervorgerufen, nein, auch deren Eltern waren immer zu einem neckischen Spruch bereit gewesen, wenn er mit seinen leuchtend roten Haaren in der Masse der Pimpfe auftauchte.
Er sah aber auch wirklich komisch aus! Im zarten Alter von 4 Jahren hatte er schon eine Körpergröße von 1,74 erreicht, dabei konnte man seine Schultern mit 2 Händen umfassen, manche Frau wäre glücklich über eine solche Wespentaille gewesen.
Seine Arme waren unnatürlich lang, wenn er sie in die Höhe hob, konnte er damit die Zimmerdecke eines Altbaus erreichen, die gut 2,50 hoch war. In diesem Haus wohnte er mit seiner Familie, die von normalen Körperwuchs war.
Bei ihm hatten einige Hormonschübe, während seine Mutter mit ihm schwanger war, zu seinem überdimensionalen Körperwuchs geführt. Schon im dritten Schwangerschaftsmonat hatte man ihn durch einen Kaiserschnitt von seiner Frau Mama entbinden müssen. Sein Vater, ein kleiner, gutmütiger Mann, hatte sie eines Morgens mit allen Anzeichen des Entsetzens im Gesicht ins Krankenhaus gebracht und nur noch röcheln können: „Sie platzt, sie platzt!“
Die Ärzte setzten ohne Zögern eine Notoperation an. In dem furchtbar aufgeblähten Bauch hatten sich bereits feine Risse gebildet, aus denen Blut sickerte. Schnell wurde sie narkotisiert und der Chirurg brauchte nur noch das Skalpell daran zu setzen und leicht zu drücken, da riss die Haut auch schon mit einem leisen Seufzer auf. Ein riesiges Baby reckte brüllend seine Arme in die sterile Weiße des Saals.
Durch eine dramatische Operation gelang es den Ärzten, die Frau und das Baby am Leben zu erhalten. Das Riesenbaby wurde zum Aufmacher jedes einschlägigen Fachmagazins.
Für die Eltern des Kindes, das sie Karl genannt hatten, begann mit seiner Geburt ein wahrer Kreuzweg. Immer und überall veranlasste die hochaufgeschossene Gestalt ihre Mitmenschen zu ironischen, spöttischen, ja, sogar zu offen höhnischen Bemerkungen. Solange er wohlbehütet zu
Hause bleiben konnte, spürte er die Abnormität seines Körperwuchses kaum.
Es begann erst richtig mit voller Wucht , als Karl in den Kindergarten ging und schließlich in die Schule. Dort bekam er die niederträchtige Verachtung seiner Mitschüler mit aller Macht zu spüren.
Morgens, wenn er mit dem Bus den Weg zur Schule zurücklegte, musste er sich während des gesamten Weges abfällige Bemerkungen und bissigen Spott gefallen lassen, zwei bis drei Mal pro Monat wurde er sogar verprügelt! Außerdem hatte er keine Freunde, sogar Katzen machten einen Buckel und fauchten ihn an, die friedlichsten Schoßhündchen fletschten ihre Zähne und schnappten nach ihm, sollte er versuchen, sie zu streicheln.
So quälte er sich durchs Leben, doch dann entdeckte er, wie er seine Einsamkeit ein wenig lindern konnte. Dieser Erkenntnis ging eine Begegnung mit dem jungen Geistlichen seines Pfarrbezirks voraus, mit dem er sich sonntags nach dem Gottesdienst oft stundenlang unterhalten hatte.
Der Pfarrer musste ihm erklären, dass seine Körpergröße keine Strafe Gottes war und hatte ihm zu Gebeten geraten. Karl griff nach diesen Vorschlag wie ein Ertrinkender nach dem sprichwörtlichen Strohhalm, doch alle Gebete hatten nichts genutzt. Mittlerweile hatte er die imposante Höhe von 2,64 Meter erreicht, wog dabei aber nur 50 Kilo.
Eines Abends, es war im Hochsommer und noch angenehm warm, ging er in den nahen Park, legte sich hinter ein Gebüsch auf den Rasen und schaute in den sternenklaren Himmel. Zwei bis drei Stunden mochte er so dagelegen haben und wollte sich gerade erheben und gehen, als sich ein junges Pärchen auf die Bank setzte, die unmittelbar vor dem Gebüsch stand, das ihn vor seinen Augen verbarg.
Karl wollte die beiden jungen Leute nicht stören, außerdem hatte er wegen seines einzigartigen Aussehens etwas Angst vor fremden Menschen. So blieb er still liegen und wurde unfreiwillig Zeuge des Gesprächs der beiden.
„Ach Gerda“, sagte der junge Mann, „ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe. Dazu fehlen mir einfach die Worte!“ „ Ja, ja, Wilfried,“ entgegnete darauf die als Gerda Angesprochene, „auch mir stockt der Atem, wenn ich an unser beider wunderbares Liebesglück denke!“ Noch drei Stunden blieben die beiden sitzen und übertrafen sich dabei gegenseitig in der Beteuerung ihrer Liebe zueinander.
Karl rannen derweil die Tränen über die Wangen und weichten den Rasenboden unter seinem Kopf auf. Wohl niemals würde er einer Frau begegnen, die ihn so sehr lieben würde! Dann endlich verließen die beiden die Bank und den Park.
Auch Karl erhob sich mit wackeligen Beinen. Hängenden Kopfes, wankend vor Trauer und halbblind vor Tränen, schleppte er sich den Heimweg entlang. Er sah den offenen Gully gar nicht, der im Asphalt vor ihm in der Straßendecke gähnte und kam erst wieder zu Sinnen, als er bis zur Brust im Wasser in dem engen Gully-Schacht steckte.
Angeekelt hielt er den Atem an, als er den Gestank wahrnahm, der um ihn herum herrschte und begann, laut um Hilfe zu rufen. Seine Stimme hallte in dem engen Schacht wieder und dröhnte ihm in den Ohren. Nach einer halben Stunde glaubte er zu bemerken, dass das stinkende Wasser um ihn herum immer höher stieg. Jedoch die Logik machte ihm zugleich grausam klar, dass nicht das Wasser stieg, sondern er sank in den Schlamm ein , der sich im Laufe der Zeit meterhoch am Grunde des Siels gesammelt hatte.
Wenn Karl aus seiner hilflosen Position nach oben sah, erblickte er wieder den Nachthimmel, der aber keinen romantischen Gedanken mehr zuließ. Mittlerweile war er bis zu den Brustwarzen in den Schlamm eingesunken und das Wasser gluckste um sein Kinn. Er glaubte nicht mehr daran, den Grund mit den Füßen zu erreichen, bevor ihm das Wasser in Mund und Nase drang.
Doch plötzlich hatte sein Sinken ein Ende. Er stand mit den Füßen fest auf dem Boden des zylindrischen Abwasser-Schachtes! Um sein Glück vollkommen zu machen, entdeckte ein zufällig vorbei gehender Passant seine missliche Situation und versprach, sofort Hilfe zu holen. Karl wusste, dass er gerettet war!
Nur Minuten später ließen einige Männer und Frauen, die aus einem nahen Wirtshaus zur Hilfe geeilt waren, ein dickes Seil in den Gully hinab, an dem er sich bis zum Eintreffen der Feuerwehr festhalten konnte.
Doch was war inzwischen passiert? Karl hatte sich so sehr über seine vermeintliche Rettung gefreut, dass er die Schließmuskeln seiner Blase nicht mehr kontrollieren konnte und diese sich entleert hatte. Dadurch war der Wasserspiegel in dem engen Rohr gestiegen. Karls Füße steckten wie einbetoniert im Schlamm und hielten ihn fest am Grund.
So war Karl eine Minute vor der Rettung in seinem eigenen Urin ertrunken.
Ende

