Veröffentlicht: 15.01.2022. Rubrik: Kürzestgeschichten
Das Geschenk
Das Geschenk
Es war Mitte der 1980ger Jahre, als eine Freundin von uns ihren dreißigsten Geburtstag feierte. Zu diesem Anlass sollte sie ein ganz besonderes Geschenk bekommen. Von einer bekannten Astrologin wollten wir ihr ein persönliches Horoskop erstellen lassen. So weit, so gut, das Geburtsdatum wussten wir ja. Die Astrologin allerdings forderte noch andere Daten ein, und zwar den genauen Geburtsort sowie die Uhrzeit. Gut sagten wir uns, befragen wir ihre Mutter. Sie ist eine liebe, wirklich ältere Dame, die erst sehr spät Mutter geworden war. Wir erklärten unser Problem. „Nun ja, geboren wurde sie drüben im Josefs Hospital. Wir haben ja schon immer hier gewohnt. Weshalb hätten wir wo anders hingehen sollen?“, erklärte uns die Alte, indes sie nach dem Stammbuch fingerte. „Nur die Zeit, dazu kann ich euch nichts sagen. Wisst ihr, damals bin ich gegen Ende der Geburt ins Koma gefallen und es war nicht üblich, dass die Männer dabei waren. Der gute Georg war sowieso auf Geschäftsreise.“ Sie setzte sich in einen bequemen Sessel. Sie hielt das Stammbuch in den Händen und blätterte darin. „Ah ja, da ist es. Das steht, wann Sonja geboren wurde. Ja, aber eine Uhrzeit steht nicht darin. Tut mir leid.“ Wir sehen uns an. „Eine separate Geburtsurkunde gibt es nicht?“, wollte ich wissen. Sie überlegte, man sah es an ihren Stirnfalten. „Nein, wozu? Wir haben ja das Stammbuch.“ Wir bedankten uns und gingen. Nach langen Überlegungen kamen wir zu dem Schluss, beim Standesamt nachzufragen. Gesagt getan. Beim Standesamt wurden wir von einer freundlichen Dame empfangen. Wir erzählten ihr von unserem Problem. Unsere Idee begeisterte sie und sie wollte die Adresse der Astrologin. Dann notierte sie sich alles und vertröstete uns auf die nächsten Tage, weil sie eine Anfrage an das Archiv machen musste. Es waren ja auch noch vier Wochen hin bis zu dem Geburtstag, von daher keine Panik.
Einige Tage später standen wir wieder im Büro der netten Beamtin. Sie bat uns, Platz zu nehmen. „Aja, sie wollten ja die Geburtszeit von Sonja Schneider wissen, wegen dem Horoskop. Einen Augenblick.“ Sie blätterte durch einen Aktenstapel und zog eine Akte heraus. Aus der Akte holte sie ein Blatt Papier, es war handgeschrieben, das konnte man sehen. Sie las es. „Tja, meine Kollegin hat mir eine Mitteilung geschrieben. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Am 31.07. wurde im Josefs Hospital kein Mädchen geboren, nur ein Junge und der ist kurz nach der Geburt gestorben. Allerdings, so schreibt meine Kollegin, ist wohl in der Nacht davor ein Mädchen geboren worden, bei dem die alleinstehende Mutter starb.“