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geschrieben 2025 von Jan P. (Flachs2002).
Veröffentlicht: 16.01.2025. Rubrik: Persönliches


From Masha with Love - Liebesgrüße aus Moskau

Die Sonne stand bereits hoch am strahlend blauen Himmel, als ich im Bosco Café saß und auf Masha wartete. Die großen Fenster des Cafés boten einen perfekten Blick auf den Roten Platz, wo Touristen mit Kameras umherliefen und Kinder mit Ballons spielten. Es war ein perfekter Morgen im August 2018, warm, aber nicht drückend, und die Luft war erfüllt vom Duft frisch gebrühten Kaffees und dem fernen Echo einer Straßenmusikantin.
Ich hatte mir extra einen Fensterplatz ausgesucht, nicht nur wegen der Aussicht, sondern auch, um sicherzugehen, dass Masha mich sofort erkennen würde, wenn sie hereinkam. Unsere Verabredung war für 10.00 Uhr angesetzt, und ich war wie immer zehn Minuten zu früh da. Ich hatte gelesen, dass Pünktlichkeit in Russland nicht allzu ernst genommen wird – besonders bei Frauen –, aber ich wollte keinen schlechten Eindruck hinterlassen.
Die letzten Tage waren ein Traum gewesen: die Wolgakreuzfahrt von St. Petersburg nach Moskau hatte mir eine andere Seite von Russland gezeigt – eine Reise durch eine Landschaft, geprägt von stillen Flüssen, goldenen Kirchenkuppeln und endlosen Wäldern. Und jetzt, in Moskau, sollte der Höhepunkt meiner Reise kommen: das Treffen mit Masha. Nach zwei Jahren intensiven Kontakts über das Internet war dies unser erstes persönliches Treffen. Sie hatte versprochen, mir ihre Stadt zu zeigen, das "wahre Moskau", wie sie es nannte.
Ich blickte auf die Uhr: 10.15. Kein Grund zur Sorge, sagte ich mir, während ich an meinem Kaffeelöffel herumdrehte. Vielleicht war sie im Verkehr steckengeblieben oder hatte Probleme mit der Metro. Dennoch spürte ich ein leichtes Ziehen in meinem Bauch – war es Nervosität oder schon Enttäuschung? Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, doch die Vorstellung, sie könnte in diesem Moment durch die Tür treten, jagte mir eine unbestimmte Spannung durch den Körper.
Um mich abzulenken, beobachtete ich die vorbeigehenden Menschen vor dem Fenster. Eine Frau in einem roten Kleid lachte laut, während sie ein Kind an der Hand hielt. Ein Moment des Neids überkam mich – warum konnte meine Wirklichkeit nicht ebenso leicht und voller Freude sein? Ich bestellte einen Cappuccino, nahm mein Handy heraus und wählte ihre Nummer. Das Freizeichen erklang, doch niemand nahm ab.
Um 10.30 Uhr hatte sich die warme Morgensonne in eine drückende Hitze verwandelt. Der Kellner führte neue Gäste an einen Tisch in der Nähe. Ich konnte mich kaum konzentrieren, die wachsende Unruhe in mir drängte mich dazu, die Uhr erneut anzusehen. Wieder griff ich nach meinem Handy. Wieder kein Erfolg. Mein Kaffee war längst ausgetrunken, und ich begann mich zu fragen, ob ich hier wirklich den Rest des Vormittags verbringen wollte. Ein Gedanke nagte an mir: Hatte ich etwas falsch verstanden? Hatte sie sich doch umentschieden? Die Minuten krochen voran, und mit jeder Sekunde wurde das Ziehen in meinem Bauch stärker, schwerer, fast unerträglich.
Es war schließlich fast 11 Uhr, als ich aufgab. Masha würde nicht kommen. Mit einem schweren Herzen bezahlte ich meinen Kaffee, stand auf und trat hinaus auf den Roten Platz. Die Sonne brannte inzwischen vom Himmel, und ich fühlte mich seltsam verloren. Der Platz, der sonst so imposant und voller Leben wirkte, schien mir plötzlich leer und kalt. Während ich durch die Menge schlenderte, vorbei an den bunten Zwiebeltürmen der Basilius-Kathedrale, fragte ich mich, was ich hätte anders machen können. Doch jede Antwort blieb vage, wie ein Schatten, der sich nicht greifen lässt.
Im Zaryadye Park, dort, wo früher das gewaltige Hotel Rossija gestanden hatte, fand ich eine Bank im Schatten. Der Park ist einer der schönsten Orte auf dieser Welt. Die Lage des Parks ist schlichtweg unschlagbar. Er befindet sich neben dem Roten Platz, dem Kreml und der Basilius-Kathedrale, auf die man einen hervorragenden Blick vom Park aus hat. Der Park ist ein Abbild der verschiedenen Landschaften Russlands. Die schwebende Brücke in der Form eines „V“ über der Moskwa ist zur beliebtesten Touristenattraktionen geworden.
Ich ließ mich auf der Parkbank nieder und starrte auf die vorbeiflanierenden Menschen. Die Enttäuschung über Mashas Fernbleiben mischte sich mit einer seltsamen Ruhe, die ich mir nicht ganz erklären konnte. Es war, als hätte die Stille des Parks meine Gefühle eingefangen und sie in eine Art trägen Nebel gehüllt. Gleichzeitig begann mein Verstand zu arbeiten, ließ mich fragen, ob Mashas Absage nur ein Zufall war oder ein Zeichen, das ich nicht verstehen konnte.
Meine Gedanken wanderten – zurück zu den Frauen, die ich mit diesem Ort verband. Natalie. Ihr schelmisches Lächeln, das den Herbst 1992 prägte, war mehr als eine Erinnerung – es war ein Gefühl, das nie verblasste. Ein deutsch-russischer Studentenaustausch, unsere Semesteraufgabe, den Roten Platz neu zu gestalten. Die Idee war ambitioniert, beinahe vermessen, aber unsere jugendliche Energie ließ uns daran glauben. Natalie war mir sofort aufgefallen. Wir konnten kaum miteinander sprechen – sie sprach kein Deutsch, ich kein Russisch. Doch es war nicht nötig. Ihre schwarzen Augen, tief und lebendig, erzählten Geschichten, die ich auch ohne Worte verstand. Der Höhepunkt jenes Herbstes war ein Abend im Nikulin-Zirkus am Zwetnoi-Boulevard. In der Pause verschwand Natalie kurz und kehrte mit zwei Eis zurück. Sie hielt mir eines hin, ihr Lächeln warm und ehrlich. „Poprobuyte,“ sagte sie, und obwohl ich das Wort nicht verstand, reichte ich ihr mein Lächeln zurück. Der Geschmack des Eises, der Duft der Zirkusluft und das Leuchten in ihren Augen – ein Augenblick, der sich unauslöschlich in mein Gedächtnis brannte. Doch wie vieles in jenen Tagen war auch Natalie nur ein flüchtiger Traum. Der Abschied war schmerzhaft, aber unausweichlich. Wir umarmten uns wortlos, und ich sah sie nie wieder. Manchmal frage ich mich, was aus ihr geworden ist. Aber vielleicht ist es besser, sie als das leuchtende Bild zu bewahren, das sie für mich war.
Nadeshda aus Winniza. Sie war eine andere Welt. Unsere Wege kreuzten sich 1999 in Hilden, der Beginn einer tiefen, aber auch komplizierten Verbindung. 2002 verbrachten wir eine Woche in Moskau im alten Hotel Rossija. Der Zaryadye Park, in dem ich jetzt auf der Parkbank saß, ersetzte seit 2017 das Hotel Rossiya. Doch in meinen Gedanken lebt das Rossiya weiter, zusammen mit den Erinnerungen an Nadeshda. Sie war faszinierend, voller Widersprüche. Ihre Ideen und Gedanken hatten eine Tiefe, die mich oft herausforderte. Ich erinnere mich an ein Gespräch auf unserem Zimmer im Rossija, bei dem wir lange auf die Lichter der Stadt starrten. „Moskau ist ein Ort der Extreme,“ sagte sie. „Man muss stark sein, um hier zu leben. Aber gerade das macht die Menschen hier so besonders.“ Mit jedem Ort, den wir gemeinsam bereisten – Wien, Brüssel, Budapest –, fühlte ich mich ihr näher und zugleich distanzierter. Sie war wie ein Geheimnis, das sich nie ganz offenbaren wollte. Einmal fragte ich sie direkt: „Warum bewahrst du so viel von dir für dich selbst?“ „Weil manche Dinge nur mir gehören,“ antwortete sie leise und wandte den Blick ab. Unsere Zeit zusammen war intensiv, voller Leben und Lachen. Doch sie war auch geprägt von einer Distanz, die ich nicht überwinden konnte. Als ich sie verlor, hinterließ sie eine Leere, die ich lange nicht füllen konnte. Nadeshda war die Liebe, die ich nie ganz erreichen konnte – und die deshalb so schmerzhaft war.
Masha. Sie sollte der Neuanfang sein, der mich von der Vergangenheit befreit. Unsere Verbindung begann so unschuldig, mit Postkarten, die über Kontinente hinweg flogen. Ihre Nachrichten waren kleine Kunstwerke, mit bunten Briefmarken und sorgfältig geschriebenen Worten. Am Ende stand immer: „from Masha with Love“. Liebesgrüße aus Moskau.
Ich erinnere mich, wie sie mir schrieb, dass sie einmal in Mülheim an der Ruhr gelebt hatte. Die Verbindung zu diesem Ort wurde zu einem spielerischen Ritual. Ich schickte Postkarten aus meiner Heimat, und sie antwortete mit Bildern aus fernen Ländern – den Seychellen, Hawaii oder einem spontanen Trip nach Kaliningrad.
Ziellos ließ ich mich von meinen Gedanken durch Moskau treiben und überquerte die Große Moskwa-Brücke, die in den 80er-Jahren Schauplatz eines ungewöhnlichen Kapitels der Geschichte gewesen war – damals war Matthias Rust mit seinem kleinen Flugzeug hier gelandet und hatte die Welt verblüfft. Die Brücke wirkte heute wie ein stiller Zeuge all der Geschichten, die Moskau in sich barg – Geschichten, in denen ich nun meine eigene suchte.
Auf der anderen Seite der Moskwa angekommen, wanderte ich ohne bestimmtes Ziel dem Ufer entlang. Die goldenen Reflexionen der Sonne auf dem Wasser blendeten mich, während ich durch die Straßen schlenderte. Irgendwann blieb mein Blick an einem Straßenschild hängen: Bolshaya Yakimanka. Der Name kam mir bekannt vor, wie ein vergessener Hinweis in einem Kriminalroman. Wohnte hier nicht Masha? Unzählige Male hatte ich die Adresse Bolshaya Yakimanka 26, Moscow 119180, auf Postkarten und Briefen geschrieben.
Ich beschleunigte meinen Schritt, als ob ich die Antwort in dieser Straße finden könnte. Schließlich blieb ich vor Haus Nummer 26 stehen. Was ich sah, ließ mich stutzen: ein moderner Bürokomplex aus Glas und Stahl. Am Eingang prangte ein großes Schild: „Coworking Spaces – Büroräume und Schreibtische zur Miete.“
Ein seltsames Unbehagen breitete sich in mir aus. Ich hatte meine Postkarten und Briefe an diese Adresse geschickt, war sicher gewesen, dass Masha hier lebte. Doch es gab keine Spur von einem Zuhause, kein Zeichen von Persönlichkeit, nur sterile Arbeitsräume. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, einer, den ich zuerst verdrängen wollte: War Masha überhaupt echt? Oder war sie etwas – oder jemand – ganz anderes? Ich erinnerte mich an ihre Erzählungen über ihre Arbeit im Außenministerium, die zahllosen Reisen, die fernen Länder. Ihre Geschichten hatten immer wie aus einem Abenteuerroman geklungen, voller Details, aber nie wirklich greifbar.
Zurück im Hotel suchte ich online nach ihrem Namen. Früher hatte ich ihre Profile auf Facebook, Instagram und Postcrossing mühelos gefunden. Doch nun: nichts. Ihr Name schien aus dem digitalen Raum gelöscht worden zu sein. Keine Spuren, keine Hinweise. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Im Zaryadye Park hatte ich noch geglaubt, sie sei einfach eine vielbeschäftigte Frau. Jetzt erschien mir alles wie ein sorgfältig inszeniertes Spiel. Vielleicht war sie mehr als nur eine Reisende – vielleicht eine, die im Schatten lebte, mit einer Aufgabe, die ich nicht durchschauen konnte. Eine Agentin?
Am nächsten Morgen flog ich mit vielen Fragen und Gedanken zurück nach Düsseldorf. Monate später lag eine Postkarte in meinem Briefkasten. Der Text war knapp: „from Masha with Love“. Ich schaute mir den Poststempel an, Straßburg, Conseil de l’Europe. Dann drehte ich die Karte um und sah das Europäische Parlamentsgebäude in Straßburg. Plötzlich musste ich lächeln. Eine russische Mata Hari als Freundin – eine Geschichte, die nur das Leben schreiben konnte. Ich stellte mir vor, wie sie irgendwo, mit einem Lächeln, ihre nächste Mission plante. In diesem Moment wusste ich, dass ich ihr alles Gute und viel Glück bei ihrer geheimnisvollen Tätigkeit wünschte – und dass ich meine russische Agentin nie vergessen würde.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von omorlova am 17.01.2025:

Als eine Moskauerin in Deutschland habe ich den Text echt gern gelesen. Mascha war bestimmt eine Spionin :D

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