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geschrieben 2024 von Jan P. (Flachs2002).
Veröffentlicht: 19.12.2024. Rubrik: Persönliches


Azoren - Die Rückkehr einer Erinnerung

Der Himmel über der Azoreninsel São Miguel war an diesem Dezembertag schwer und bleiern. Wolken trieben wie riesige, zerrissene Segel über das Meer, das in einem kalten, stählernen Blau schimmerte. Die Küste war wild und zerklüftet, ein ungestümer Tanz aus Basaltfelsen und Gischt. Der Pfad, auf dem ich wanderte, zog sich wie eine graue Narbe durch die grüne, vom Wind zerzauste Landschaft. Links von mir stürzten die Wellen tosend gegen die Felsen, rechts erhoben sich sanfte Hügel, die von dichten Hortensienhecken und Moos überwucherten Steinmauern durchzogen waren.

Das Dorf Calhetas, durch das ich kam, war still wie ein verlorener Gedanke. Verlassene Fischerhütten standen schief an der Küste, ihre Farbe längst von der salzigen Luft abgetragen. Einige Türen hingen schief in den Angeln, als hätten sie den Kampf gegen die Zeit und die Natur endgültig aufgegeben. In der Ferne klapperte eine Jalousie im Wind, ein einsamer, unregelmäßiger Klang, der die Stille nur noch greifbarer machte.

Ich war hierhergekommen, um dem Alltag zu entfliehen, doch in dieser Einsamkeit spürte ich, wie die Leere mich umhüllte. Der Wind trug den Geruch von Algen und Salz mit sich, und das monotone Rauschen des Meeres hatte etwas Hypnotisches. Die Tage schienen endlos zu sein, wie gedehnt, und die Stille hatte eine eigene Präsenz, die schwer auf mir lastete. Genau das hatte ich auf den Azoren gesucht: Abstand, Ruhe, Leere.

Doch dann tauchte sie auf.

Eine junge Frau kam mir auf der Straße entgegen, mit schnellen, selbstbewussten Schritten, als wüsste sie genau, wohin sie ging. Sie trug auffällige Turnschuhe, blau und gelb – ein kräftiger Farbklecks in der trüben Landschaft. Ich achtete nicht weiter auf sie, bis ich ihren Blick bemerkte. Sie schaute mich direkt an, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sie mich gesehen hatte.

„Ukraine?“, fragte ich impulsiv, ohne wirklich nachzudenken. Sie nickte knapp. „Ja.“

„Kiew oder Charkiw?“, fragte ich weiter, fast automatisch. Die beiden Städte, die man oft hört, die man kennt. Der Krieg in der Ukraine hatte den Osten des Landes mit Leid und Zerstörung überzogen, doch für mich schien es, als wären die Entfernungen zu groß, als dass die Geschehnisse dort mich direkt betreffen könnten.

„Winniza“, sagte sie, und sofort durchzuckte mich ein Gedanke. Winniza. Der Name stach hervor, und ohne es bewusst zu wollen, fragte ich: „Elena?“

Es war ein Reflex, der Name war einfach aus mir herausgeplatzt. Elena – den Namen hatte ich seit Jahren nicht mehr gehört, aber in diesem Moment bekam er plötzlich wieder eine Bedeutung.

„Ja“, antwortete sie, und ein schüchternes Lächeln spielte für einen Moment um ihre Lippen. Doch es war mehr ein höfliches, fast leeres Lächeln. Sie schien nicht wirklich an einem Gespräch interessiert zu sein.

Ich starrte sie an. Ihre Antwort hallte in meinem Kopf nach: Elena. Das war der Moment, in dem alles in mir zusammenbrach – als ob die Vergangenheit mit einem einzigen Wort wieder zum Leben erweckt worden wäre. Elena, die Freundin, die ich vor 17 Jahren aus meinem Leben verdrängt hatte.

Für einen Moment vergaß ich alles um mich herum. Ich dachte an die Gespräche mit Elena damals, an die gemeinsamen Tage, an das, was wir miteinander geteilt hatten. 17 Jahre lang hatte ich sie nicht mehr bewusst in meinen Gedanken zugelassen, hatte nie darüber nachgedacht, was aus ihr geworden war. Doch jetzt war sie wieder da, einfach so, mit einem einzigen Wort.

„Sie hat eine Schwester namens Zofia. Kennst du sie?“, “, fragte ich fast automatisch, ohne darüber nachzudenken. Zofia, die Schwester von Elena. Es war eine Erinnerung, die plötzlich wieder hochkam, wie ein Bild, das vergessen war und nun wieder in meinem Kopf auftauchte.

„Nein“, sagte sie schlicht, als wäre es das normalste der Welt.

Und dann zog sie ihr Handy aus der Tasche. Ihr Blick wanderte auf den Bildschirm, und sie begann zu tippen, als wäre nichts gewesen, als wäre unser Gespräch gerade wieder in die Bedeutungslosigkeit entglitten.

„Wie gefallen dir die Azoren?“, fragte ich, mehr aus einer inneren Unruhe heraus, die sich plötzlich in mir breitgemacht hatte. Die Erinnerung an Elena hatte mich gepackt, und ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.

„Es ist langweilig“, antwortete sie, ohne ihren Blick vom Handy zu heben.

Und damit war sie auch schon weitergegangen, ihre Schritte verhallten leise auf dem Kies, während ich zurückblieb – mit einer Frage, die plötzlich in meinem Kopf tobte: Was ist aus Elena geworden?

Ich blieb noch einen Moment stehen, die kühle Brise im Gesicht, den weiten Ozean vor mir, und meine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Ich hatte die Frau aus der Ukraine nur flüchtig getroffen, ein kurzer Moment in einem fremden Land. Doch dieser Moment hatte ausgereicht, um eine Erinnerung in mir zu wecken, die ich 17 Jahre lang nicht zugelassen hatte. Die Erinnerung an Elena, die Freundin aus Winniza, die ich verloren hatte, deren Leben jetzt in der Ferne lag.

Vielleicht war das alles nur Zufall gewesen. Vielleicht war es der Name, der mich so plötzlich an sie erinnerte. Aber in diesem Moment fühlte sich alles anders an. Der Name „Elena“ hatte etwas in mir ausgelöst, etwas, das ich bis zu diesem Moment nicht einmal gewusst hatte, dass es noch da war.

Was war aus Elena geworden? War sie irgendwo auf der Welt, genauso fern von mir wie der Horizont, den ich gerade vor mir sah?

Ich brach auf und ging weiter entlang der Küste nach Capelas zur alten Walfangstation. Aber die Gedanken an Elena ließen mich an diesem Tag nicht mehr los. Sie waren wieder da – 17 Jahre später, in einer Ecke meines Gedächtnisses, die ich so lange verschlossen hatte.

Am Abend saß ich, wie an den meisten Abenden, in der kleinen Tasca do Jose in Ponta Delgada. Das Lokal war schlicht und einfach: eine Holztür, die bei jedem Öffnen leise quietschte, Tische aus dunklem Holz, und an den Wänden hing eine Mischung aus alten Schwarzweißfotos und verstaubten Fischernetzen. Es roch nach gegrilltem Fisch, rauchigem Piri-Piri und einer Spur von Bier, das aus den Gläsern der Gäste verdunstete.

Ich saß alleine an einem Tisch in der Ecke, das Meer draußen hinter den Fenstern kaum sichtbar in der Dunkelheit. Vor mir stand ein einfaches Bierglas, das durch die flackernde Neonlampe über der Theke in ein warmes Gold getaucht wurde. Die Erdnüsse auf meinem Teller waren salzig, fast zu salzig, und der Geschmack ließ mich an das Salz des Meeres denken, das ich tagsüber auf den Lippen gespürt hatte.

Die Begegnung mit der jungen Frau aus der Ukraine ließ mich nicht mehr los. Wie war sie hierhergekommen, auf diese abgelegene Insel mitten im Atlantik? Die Azoren waren für mich ein Ort der Stille, ein Rückzugsort, an dem ich meine Ruhe suchte – doch für eine junge Frau, die vor dem Krieg geflüchtet war, musste dieser Ort wie eine Endstation wirken. Ein winziges Dorf, in dem die Tage in endloser Gleichförmigkeit verrinnen und die Einsamkeit fast greifbar ist.

Ich dachte an ihre Antwort: „Es ist langweilig“ Ihre Stimme hatte kaum Emotionen verraten, doch diese drei Worte hallten in meinem Kopf nach. Langeweile. Das passte zu dem Ort, an dem ich sie getroffen hatte. Calhetas, mit seinen verlassenen Fischerhütten und stillen Gassen, wirkte wie aus der Zeit gefallen. Kein Ort für jemanden, der etwas Neues suchte, der ein anderes Leben beginnen wollte.

In meinem Kopf begannen sich Fragen zu formen: Warum war sie hier? Hatte sie Verwandte, die sie hierhergebracht hatten? Oder war es der Zufall, das Schicksal, das sie an diesen Ort gespült hatte?

Unwillkürlich dachte ich an Elena und Zofia. Zwei Namen, die ich seit Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte. Ich konnte mir die beiden Schwestern, die ich damals gekannt hatte, nicht in einem solchen Dorf vorstellen. Elena mit ihrem ansteckenden Lächeln, Zofia mit ihrer spontanen, entschlossenen Art – sie gehörten in eine lebendige Welt, nicht in einen Ort wie diesen.

Doch genauso wie die junge Frau auf den Azoren schienen auch sie jetzt Welten entfernt von mir zu sein. Ich fragte mich, was aus ihnen geworden war, ob sie irgendwo auf dieser Welt ein neues Leben begonnen hatten. Ob sie sich an mich erinnerten.

Elena. 17 Jahre lang hatte ich sie nicht mehr bewusst in meinen Gedanken zugelassen. Sie war ein Teil meiner Vergangenheit, den ich irgendwann einfach hinter mir gelassen hatte. Oder hatte ich ihn verdrängt? Es spielte keine Rolle mehr. Elena war jemand, der einst so nah gewesen war, dass ihre Abwesenheit ein Loch in meinem Leben hinterlassen hatte. Doch dieses Loch hatte ich längst überdeckt, mit Arbeit, mit anderen Freundschaften, mit der Zeit.

„Weißt du, ob es Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf den Azoren gibt?“ fragte ich Piet, der sich zu mir gesetzt hatte. Der Holländer war ein geselliger Mann, der es genoss, von den alten Geschichten der Insel zu erzählen. Er nickte nachdenklich, bevor er antwortete: „Einige, ja. Nicht viele. Aber für jemanden, der vor einem Krieg flieht, ist das hier vermutlich eine Art Nirgendwo. Zu klein, zu still.“

Seine Worte hallten in mir nach. Ich stellte mir die junge Frau vor, wie sie durch die leeren Straßen von Calhetas ging, umgeben von der unbarmherzigen Schönheit der Insel. Vielleicht war sie wie ich hierhergekommen, um etwas zu finden – nur dass sie nichts fand außer der Stille und der Einsamkeit, die sie zu verschlucken drohten. Es war ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass auf diesen abgelegenen Inseln im Atlantik Menschen Zuflucht suchten – von Kriegen, die so weit entfernt schienen, und von einem Leben, das sie hinter sich gelassen hatten.

Ich dachte an ihre blau-gelben Turnschuhe, an die leeren Worte. Und an Elena, die mit einem einzigen Wort all die Jahre meiner Erinnerung wieder zum Leben erweckt hatte.

Doch so schnell wie die Gedanken an Elena an diesem Tag gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder. Elena gehörte der Vergangenheit an, einem Kapitel, das ich längst geschlossen hatte. 17 Jahre lang hatte ich sie nicht vermisst, nicht mehr an sie gedacht – und das würde wohl auch so bleiben. Ich kehrte von den Azoren zurück, ließ den Moment auf der Insel, in dem die Erinnerung an Elena wieder erwacht war, hinter mir. Die fremde Frau verblasste in meinen Gedanken, wie der Hauch eines Traumes, den man am Morgen kaum noch fassen kann.

Wochen vergingen, dann Monate. Eines Morgens, zehn Monate nach der Begegnung auf den Azoren, war sie plötzlich wieder da. Als ich meinen Laptop öffnete, sah ich eine neue E-Mail in meinem Posteingang. Die Absenderadresse war mir nicht vertraut, doch die ersten Worte der Nachricht ließen mich aufhorchen: „Hallo Jan, sorry, dass ich dich störe... nach so vielen Jahren... wollte nur fragen, wie es dir geht...“ Ich las den Absendernamen: Elena. Ihre Nachricht traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es war, als hätte jemand eine verborgene Tür in meinem Inneren aufgestoßen. Ich starrte auf den Bildschirm und konnte nicht glauben, was ich da las. Elena. Die Elena, die ich aus meinem Leben verdrängt hatte, schrieb mir jetzt, nach all diesen Jahren, aus dem Nichts. Warum jetzt? Warum überhaupt?

Es dauerte einen Moment, bis ich die Nachricht wirklich realisierte. Sie war knapp, vorsichtig. Doch zwischen den Zeilen spürte ich, dass sie den Kontakt suchte – nicht als Frage, sondern als Einladung.

Ich konnte nicht sofort antworten, so getroffen hatte mich die E-Mail. Ich schrieb zögernd zurück, fast mechanisch fast mechanisch, ohne groß nachzudenken. Und von diesem Moment an begannen wir zu schreiben. Zuerst per E-Mail, dann über WhatsApp. Wir erzählten uns nichts über die letzten 18 Jahre. Es war, als hätten wir beide beschlossen, diese Lücke nicht zu füllen, sondern sie einfach hinzunehmen, wie sie war.

Was mich überraschte, war, wie vertraut unser Kontakt sofort wieder war. Es war, als hätte es die lange Trennung nie gegeben. Wir schrieben uns mit einer Leichtigkeit, einer Wärme, die fast unheimlich war. Und doch konnte ich nicht aufhören, mich zu fragen: Warum jetzt? Warum hatte Elena nach all der Zeit den Kontakt zu mir gesucht?

Es schien surreal. Bei der Begegnung auf den Azoren hatte ich noch gedacht, dass Elena für immer ein Teil meiner Vergangenheit bleiben würde. Dass ich sie nie wiedersehen, nie wieder von ihr hören würde. Ich hatte sie abgeschrieben, sie bewusst aus meinem Leben verdrängt. Und jetzt war sie wieder da – nicht als ferne Erinnerung, sondern als reale Person, die mit mir sprach, mit mir lachte, die sich nach all den Jahren wieder für mich interessierte.

Vielleicht würde ich die Antwort darauf nie wirklich verstehen. Vielleicht spielte es auch keine Rolle. Aber eines wusste ich: Irgendetwas hatte uns wieder zusammengeführt. Und das allein war Grund genug, weiterzuschreiben – Wort für Wort, Nachricht für Nachricht.

In den Wochen nach Elenas erster Nachricht war ich hin- und hergerissen zwischen Vertrautheit und Unglauben. Unsere WhatsApp-Nachrichten waren kurz, leicht, und doch hatten sie eine Tiefe, die mich immer wieder innehalten ließ. Es war, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren, als wäre keine Zeit vergangen.

Und doch war es surreal. Ich hätte nie gedacht, dass Elena – „meine“ Elena – je wieder in mein Leben treten würde. Ich hatte sie nicht nur vergessen, sondern bewusst verdrängt. Es war einfacher gewesen, sie aus meinen Gedanken zu verbannen, als sich mit der Lücke zu beschäftigen, die sie hinterlassen hatte. Und jetzt war sie wieder da. Nicht in Person, sondern in Worten auf einem Bildschirm. Aber selbst diese Worte trugen ihre unverkennbare Handschrift.

Was mich jedoch immer wieder beschäftigte, war, dass ich Elena nie wirklich verstanden hatte. Nicht damals, und wahrscheinlich auch nicht heute. Es war nicht die Sprache, die uns trennte – es war ihre Persönlichkeit, diese schwer fassbare Mischung aus Nähe und Distanz.

Elena hatte eine Art, Dinge zu sagen, ohne wirklich etwas preiszugeben. Selbst jetzt, wo wir uns wieder schrieben, blieb vieles unausgesprochen. Wir sprachen nicht über die vergangenen 18 Jahre. Kein Wort über das Warum, über den Bruch, über die Lücke in der Zeit. Und vielleicht war das auch besser so.

Ich hatte früher oft versucht, sie zu verstehen, ihre Entscheidungen, ihre Gedanken – vergeblich. Sie blieb immer ein Rätsel für mich, ein offenes Buch, dessen Seiten ich nicht zu lesen wusste. Aber vielleicht war genau das der Grund, warum sie so eine besondere Rolle in meinem Leben gespielt hatte. Jetzt, nach all der Zeit, hatte ich meinen Frieden damit gemacht. Ich musste Elena nicht verstehen. Es reichte, dass sie wieder da war.

Unsere Nachrichten hatten die Leichtigkeit von damals – liebevoll, vertraut, wie alte Freunde, die einander nie wirklich verloren hatten. Ich musste lachen, wenn sie mir schrieb: kurze, präzise Antworten, die immer einen Funken Humor oder Wärme hatten. Es war, als hätte die Zeit keinen Einfluss auf unsere Verbindung gehabt.

Was mich dabei am meisten berührte, war die Einfachheit dieser Momente. Keine großen Gesten, keine schweren Gespräche – nur diese kleinen, vertrauten Nachrichten, die sich wie ein Stück Zuhause anfühlten. Es war alles so unwirklich.

Ich konnte nicht verstehen, warum Elena nach so langer Zeit wieder den Kontakt gesucht hatte. Ich wusste nicht, was sie dazu bewegt hatte, sich bei mir zu melden. Doch je mehr wir schrieben, desto mehr erkannte ich, dass es vielleicht keine Rolle spielte. Es zählte nicht, warum sie wieder da war. Es zählte nur, dass sie da war.

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