geschrieben von Jan P. (Flachs2002).
Veröffentlicht: 29.12.2024. Rubrik: Persönliches
Gefangen im Schmugglerexpress
Es war Mai, und der Nachtzug setzte sich pünktlich in Bewegung. Mit einem sanften Ruck verließ er den Bahnhof von Lemberg und tauchte in die tiefdunkle Nacht der ukrainischen Karpaten ein. Die dichten Wälder erstreckten sich auf beiden Seiten der Gleise, ihre Silhouetten nur schemenhaft im schwachen Licht sichtbar. Ich war erleichtert: Ein ganzes Vierer-Schlafwagenabteil nur für mich. Der Gedanke an die bevorstehenden Stunden der Ruhe beruhigte mich nach den letzten turbulenten Wochen mit Nadeshda in Ungarn.
Die Zugbegleiterin, eine junge freundliche Frau mit einer warmen Ausstrahlung und einer ansprechenden Figur, brachte mir einen heißen Tee. Ihr Lächeln war herzlich, als sie mir auf Russisch eine angenehme Reise wünschte und die Tür leise hinter sich schloss. Draußen zogen die majestätischen Wälder der Kaparten vorbei, die im Mondlicht geheimnisvoll und unheimlich wirkten, obwohl der Tag längst vergangen war.
Eine halbe Stunde später kehrte die Zugbegleiterin zurück. Mit routinierten Bewegungen verwandelte sie den Sitz in eine Liege zum schlafen, zog frische Bettwäsche über die Matratze. „Gute Nacht“, flüsterte sie sanft und verschwand in der Dunkelheit des Gangs.
Ich versuchte zu lesen, doch die Worte auf den Seiten verschwammen bald, während meine Gedanken zu Nadeshda wanderten. Unser bitterer Abschied in Winniza lag mir noch schwer auf der Seele, und ich fragte mich, ob es eine Chance auf ein Wiedersehen im Sommer gäbe. Ihre Stimme, ihr Lachen, all das schien so nah, obwohl sie hunderte Kilometer entfernt war.
Die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht als der Zug hielt. Es war ein kleiner Bahnhof, einer jener Orte, die im Schatten der Berge versteckt liegen. Kowel in Wolhynien. Ich war überrascht, dass wir hier so lange hielten. Die Minuten verstrichen, und ein leiser Hauch von Unruhe schlich sich ein, als der Zug schließlich mit einem Ruck wieder anfuhr.
Die Schiebetür meines Abteils öffnete sich. Ein Geräusch, das im gleichmäßigen Klopfen der Schwellen unterging, doch mir wie ein Donnerschlag vorkam. Im schwachen Licht des Gangs sah ich eine Gestalt. Ein Mann, gehüllt in einen langen, dunklen Mantel, dessen massige Schultern fast den Türrahmen ausfüllten, trat ein. Sein Kopf wirkte unverhältnismäßig klein, fast wie ein Fremdkörper. Mit einer kleinen Taschenlampe zwischen den Zähnen begann er, das Abteil abzusuchen.
Der Mann kletterte lautlos auf die obere Liege und begann, mit einer Schraubenzieherbewegung an der Deckenverkleidung zu arbeiten. Die Lampe zwischen seinen Zähnen ließ Schatten auf die Wände tanzen. Es dauerte nicht lange, bis er etwas hervorzog – Zigarettenstangen, die er im Schutz seines Mantels in das Abteil geschmuggelt hatte.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich begriff, dass sich ein Schmuggler in meinem Abteil versteckte. Mein Herz raste. Jede Faser meines Körpers schrie, ich solle etwas tun, doch ich konnte mich nicht bewegen. Die Realität wurde unwirklich, wie in einem Traum, aus dem ich nicht erwachen konnte. Noch bevor ich reagieren konnte, öffnete sich die Tür erneut, und ein zweiter Mann, kleiner und drahtiger, betrat das Abteil. Er warf mir einen kurzen, aber intensiven Blick zu, der alles sagte: Halte dich raus.
Ich schlich mit klopfendem Herzen hinaus auf den Gang, suchte Luft, suchte Klarheit. Doch das, was ich dort sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der gesamte Waggon war in Bewegung. Männer, alle in dunkler Kleidung, arbeiteten fieberhaft. Sie schraubten Wandverkleidungen ab, öffneten Lüftungsgitter, zerlegten Heizkörper und stopften Zigarettenschachteln in jede erreichbare Ritze. Es war eine durchorganisierte Operation – wie ein Bienenstock voller Arbeiter, die jede noch so kleine Ritze füllten. Das Geräusch von Metall auf Metall, leise Befehle, gedämpfte Stimmen in einer Sprache, die ich nicht verstand. Und über allem das Gefühl, dass ich hier nicht sein sollte.
Ich taumelte weiter, suchte Zuflucht in der Toilette, doch auch dort war die Hektik nicht zu übersehen. Ein Mann stand auf den Schultern eines anderen und schob Ware in die Deckenverkleidung. „Alles klar?“ fragte der Untere, als er mich bemerkte, sein Tonfall war kühl, fast herablassend. Hinter mir hörte ich eine bekannte Stimme. Die Zugbegleiterin war da, doch das freundliche Lächeln war einem harten Ausdruck gewichen.
Als die Zugbegleiterin mich zum ersten Mal ansprach, hatte sie eine sanfte Wärme ausgestrahlt, die mich beruhigte. Ihre Augen funkelten freundlich, und ihr Lächeln war aufrichtig, fast einladend. Doch jetzt, in der fieberhaften Hektik der Nacht, hatte sich etwas in ihrem Gesicht verändert. Ich sah sie im Gang, wie sie mit einem der Männer sprach. Ihre Stimme war leise, bestimmt. Keine Spur mehr von der warmen Zugbegleiterin, die mir Tee gebracht und mir eine gute Nacht gewünscht hatte. Als sie mich bemerkte, erstarrte ich. Ihre Augen trafen meine, und für einen Moment schien eine unausgesprochene Warnung in der Luft zu liegen.
„Du verstehst doch, was hier passiert, oder?“ Ihre Stimme war ruhig, beinahe sanft, aber in ihrem Ton schwang eine Härte mit, die keinen Widerspruch duldete. Sie trat näher, so nah, dass ich ihren Atem spürte. Es war ein seltsamer Moment: vertraut und bedrohlich zugleich. Ich nickte, unfähig, etwas zu sagen, und sie drehte sich um, ging, als wäre nichts gewesen. Ja, mir war alles klar. Ich war mitten in einer großangelegten Schmuggleraktion gelandet. Der Zug schaukelte weiter, das monotone Rattern der Schwellen klang wie ein Countdown zur Konfrontation, während wir uns der ukrainisch-polnischen Grenze näherten. Für den Moment blieb mir nichts anderes übrig, als mich in die Ecke zurückzuziehen und abzuwarten, wie diese Nacht enden würde.
Später, als ich sie in der Nähe der Waschräume wieder sah, wie sie eine Klappe öffnete und Anweisungen gab, wurde mir klar, dass sie nicht einfach nur Mitwisserin war. Sie war ein Zahnrad in dieser perfekt laufenden Maschine. Doch ihr Blick, als sie sich wieder zu mir umdrehte, war anders – weniger hart, beinahe entschuldigend. Als wollte sie mir sagen, dass auch sie keine Wahl hatte.
Mit einem langsamen Quietschen rollte der Zug in den Bahnhof von Jagodin ein, einem Grenzort zwischen zwei Welten. Hier, an der Schwelle zur Europäischen Union, schien die Zeit stillzustehen. Das Gleisfeld war in grelles Licht getaucht, überall lagen verlassene Radsätze, einige von Moos überwuchert, andere glänzend neu. Die Kälte der Nacht schien hier schärfer, die Luft voller einer nervösen Spannung, die mich nicht losließ.
Die Umspurhalle tauchte vor uns auf – ein gigantisches Gerippe aus Stahl und Beton. Die Waggons wurden einzeln in die Halle gezogen, ihre massiven Körper an eisernen Pfählen hochgehoben. Es war eine beinahe feierliche Zeremonie, die an eine seltsame Kreuzung aus Industrie und Theater erinnerte. Als unser Waggon anhielt, sah ich den Schmuggler aus meinem Abteil leise die Tür öffnen und in der Dunkelheit verschwinden. Zurück blieb ich – allein mit meiner Angst und den Zigaretten.
Die Vorbereitungen für die Kontrollen begannen. Arbeiter in verschmierten Westen erschienen mit Werkzeugkoffern, schraubten Klappen auf und hantierten unter den Waggons. Das Rattern von Metall auf Metall hallte durch die Nacht. Mein Puls raste. Was sollte ich sagen, wenn sie die Zigaretten fanden? Niemand würde mir glauben. Ich war ein Fremder in diesem Land, und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als bei Nadeshda zu sein. Ihr Lächeln hätte mir vielleicht den Mut gegeben, das alles durchzustehen.
Ein Bahnarbeiter mit rußverschmierter Gesicht betrat unseren Waggon. Mit geübten Griffen löste er die Verankerungen der Radsätze, während die Zugbegleiterin ihm mit schneidender Stimme Anweisungen gab. Ihr früheres, warmherziges Lächeln war verschwunden, ersetzt durch eine Härte, die mich frösteln ließ. Ich fragte mich, ob sie all das nur spielte – oder ob ich ihre wahre Seite erst jetzt kennenlernte.
Als unser Waggon hochgehoben wurde, schien es, als stünde die Zeit still. Mein Körper spannte sich an, jeder Muskel bereit zur Flucht, obwohl ich keinen Ausweg sah. Von unten hörte ich das Rumpeln der alten Radsätze, die weggerollt wurden, und das Quietschen der neuen, die daruntergeschoben wurden. Die Arbeit verlief reibungslos, mechanisch. Doch in mir tobte ein Sturm.
Endlich stand der Wagen wieder sicher auf den Schienen, und ich wusste, was als Nächstes kommen würde: die Pass- und Zollkontrolle. Die Anspannung war kaum auszuhalten. Als die Schritte der Beamten näherkamen, schien mein Herz den Takt zu verdoppeln. Ich konnte meinen Reisepass kaum festhalten, so sehr zitterten meine Hände. Der Beamte, ein hagerer Mann mit durchdringendem Blick, musterte mich flüchtig, stempelte meinen Pass und ging weiter. Ich war frei. Für einen Moment war ich gelähmt von der Erleichterung.
Doch die Angst ließ mich nicht ganz los. Wie würde es in Polen weitergehen? Was, wenn die Zigaretten entdeckt wurden? Die Schmuggler blieben unsichtbar, doch ich spürte ihre Präsenz, wie ein unsichtbares Netz, das den gesamten Zug durchzog.
Nach der langen Nacht erreichten wir endlich Dorohusk, den ersten Bahnhof auf polnischer Seite. Der Unterschied war sofort spürbar – weniger Licht, weniger Stimmen, weniger Hektik. Dies war keine geschäftige Drehscheibe, sondern ein Ort des Übergangs. Seit zwei Wochen gehörte Polen zur Europäischen Union, und diese neue Grenze war nun die Außengrenze Europas.
Die Passkontrolle verlief überraschend schnell. Ein polnischer Beamter, dessen Uniform noch makellos neu wirkte, fragte nach meinem Ziel. Seine Stimme war freundlich, fast beiläufig. Keine Zigarettenhunde, keine Zollbeamten – nur ein flüchtiger Blick in meinen Pass und ein Stempel. Es war vorbei. Mein Atem ging wieder ruhiger, und die Anspannung wich einer beinahe schwindelerregenden Erleichterung.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und mit den ersten Strahlen der Morgensonne kam Leben in die Männer, die den Zug mit Schmuggelware beladen hatten. Wie ein routiniert eingespieltes Team machten sie sich daran, die Zigaretten aus ihren Verstecken zu holen. Schrauben wurden gelöst, Verkleidungen entfernt, und bald türmten sich Müllsäcke voller Zigaretten in den engen Gängen.
Ich beobachtete sie schweigend. Ihre Bewegungen waren so präzise und ungerührt, als hätten sie diesen Ablauf unzählige Male durchgespielt. Einer der Männer bemerkte meinen Blick und grinste. „Wodka?“ fragte er in gebrochenem Englisch und hielt mir eine Flasche hin. Ich lehnte ab, zunächst. Doch die Anspannung der letzten Stunden forderte ihren Tribut. Schließlich nahm ich einen Schluck, und der Wodka brannte wie ein reinigendes Feuer.
Die Atmosphäre wurde lockerer. Einige der Männer lachten, unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache. Ich verstand kein Wort, doch ihre Gesten und Mimik erzählten eine Geschichte von Kameradschaft inmitten dieser gefährlichen Unternehmung. Die Zugbegleiterin erschien erneut, ihr Gesicht wieder so freundlich und sanft wie bei unserer ersten Begegnung. „Bitte wechseln Sie das Abteil“, sagte sie höflich, aber bestimmt. Ich folgte ihrer Aufforderung und beobachtete von einer Ecke aus, wie die Männer systematisch arbeiteten. Während der Fahrt hielten wir unerwartet irgendwo im Nirgendwo. Der Zug verlangsamte sich, dann stand er still. Die Männer hoben die schweren Säcke an die Fenster und warfen sie hinaus in das hohe Gras. Draußen wartete ein Wagen, der mit eingeschalteten Scheinwerfern in der Ferne sichtbar wurde. Innerhalb weniger Minuten war alles erledigt, und der Zug setzte seine Fahrt fort.
Mit jedem Kilometer wurde ich ruhiger. Der Mann mit dem drahtigen Körper, der zuvor in mein Abteil gestürmt war, saß nun entspannt auf der gegenüberliegenden Bank. Sein Mantel war abgelegt, und darunter trug er einen abgenutzten Pullover. In seinen Händen hielt er eine Flasche Wodka, deren Etikett halb abgekratzt war. Er schenkte sich ein Glas ein, dann mir. „Trink“, sagte er knapp und schob mir das Glas zu. Sein Akzent war schwer, aber die Botschaft war klar. „Danke“, murmelte ich und nahm das Glas. Meine Hände zitterten leicht, was ihm offensichtlich nicht entging. Er lachte – ein kurzes, raues Lachen, das jedoch keine Feindseligkeit ausdrückte.
„Hast Du Angst? Bist du… scared?“ Seine Augen musterten mich mit einer Mischung aus Neugier und Spott. Ich zögerte, dann nickte ich. „Yes. A little.“ Der Mann neben ihm – größer, mit einem markanten Gesicht und einer Narbe über der Augenbraue – schaltete sich ein. „Nichts Angst. Alles gut. Wir… Arbeit.“ Er suchte nach den richtigen Worten und grinste schließlich. „Business. Kein Problem.“ „Business“, wiederholte ich mechanisch und nahm einen kleinen Schluck vom Wodka. Die Schärfe brannte in meinem Hals, und ich verzog das Gesicht, was sie beide zum Lachen brachte. „Du kein Wodka trinken?“ fragte der Größere, sein Deutsch war gebrochen, aber verständlich. „Nicht oft“, antwortete ich und zuckte die Schultern. Der Drahtige nahm die Flasche und füllte sein Glas erneut. „Du lernen. Heute!“ Er hob das Glas in die Höhe. „Auf die Gesundheit! Zum Wohl!“ „Prost“, murmelte ich, und wir stießen an.
Nach ein paar weiteren Gläsern wurde die Atmosphäre überraschend entspannt. Sie sprachen miteinander auf Russisch oder Ukrainisch, wobei ich nur einzelne Worte aufgeschnappte. Immer wieder wandten sie sich an mich, zeigten auf mich und dann auf sich, als wollten sie mir etwas erklären. „Du… woher?“ fragte der Größere schließlich. „Deutschland. Berlin.“ Sie nickten wissend. „Berlin gut. Groß. Viel Arbeit.“ Der Drahtige zwinkerte. „Du rauchen? Zigaretten?“ „Nein, Nichtraucher“, antwortete ich hastig und hob die Hände. Wieder lachten sie, aber diesmal war es ein entspanntes Lachen. „Gut, gut. Nichtraucher. Keine Polizei.“ Er zwinkerte erneut, und ich war mir nicht sicher, ob das ein Scherz war. Die Wodkaflasche kreiste weiter, und bald begann der Drahtige, ein altes Volkslied zu singen, das der Größere summend begleitete. Ich verstand kein Wort, doch die Melodie war melancholisch und schön. Für einen Moment fühlte ich mich fast als Teil dieser seltsamen Gemeinschaft. „Du gut“, sagte der Größere schließlich, und es klang ehrlich. „Kein Problem mit dir. Alles gut.“ Ich nickte. „Ja, alles gut.“ Doch in meinem Inneren tobte noch immer die Angst, dass dieser Moment der Ruhe nur eine Fassade war.
Der Wodka löste die letzten Knoten der Anspannung, und als wir Lublin erreichten, fühlte ich mich beinahe wie ein Teil dieser skurrilen Reisegemeinschaft. Die Männer klopften mir auf die Schulter, lachten, und es war, als hätte die gemeinsame Erfahrung eine unausgesprochene Verbindung geschaffen. Die Schmuggler verschwanden in Lublin so unauffällig, wie sie aufgetaucht waren. Ich konnte in Ruhe meinen Wodkarausch ausschlafen. Als ich die polnische Landschaft hinter mir ließ und Berlin näherkam, kehrten meine Gedanken zu Nadeshda zurück. Was würde sie sagen, wenn ich ihr alles erzählte? Würde sie mir glauben? Ihr Gesicht erschien mir vor meinem inneren Auge, und plötzlich fühlte ich die Leere, die ihr Abschied hinterlassen hatte, schmerzhaft deutlich.
Der Zug rollte schließlich in Berlin ein. Die Zugbegleiterin verabschiedete sich mit einem freundlichen „Auf Wiedersehen“, als hätte sie nichts mit den Ereignissen der Nacht zu tun. Als ich den Bahnsteig betrat, war der Tag schon weit fortgeschritten. Berlin empfing mich mit einer kühlen Brise, und das geschäftige Treiben des Bahnhofs bot einen fast tröstenden Kontrast zur bedrückenden Nacht. Doch in mir hallte die Nacht nach, wie ein dunkles Geheimnis, das ich für immer mit mir tragen würde.