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geschrieben 2024 von Jan P. (Flachs2002).
Veröffentlicht: 02.01.2025. Rubrik: Persönliches


Flucht nach Talinn

Es war mehr als nur eine Reise – es war eine Rückkehr. St. Petersburg hatte mich 2018 wiedergerufen, mit einer leisen, beharrlichen Stimme aus der Vergangenheit. Dostojewskis Worte hatten mich inspiriert, wiederzukommen. „Weiße Nächte“ – ein Roman, der von Liebe, Einsamkeit und unerfüllten Sehnsüchten erzählt, so zeitlos und nah an meinem eigenen Empfinden.

Mit diesem Buch in der Tasche stand ich eines Abends erneut an der Löwenbrücke. Die filigrane Hängebrücke spannte sich wie ein zarter Bogen über den Gribojedow-Kanal, bewacht von vier majestätischen Löwenskulpturen aus Gusseisen. Sie waren nicht nur Ornamente; sie schienen lebendig zu sein, Wächter der Zeit, die mit wachsamen Augen alles beobachteten, was geschah.

„Warum bist du hier?“, flüsterte ich leise und blickte den Löwen an. Die Brücke schien zu antworten, als würde sie die Frage in sich tragen, genauso wie ich sie in mir trug. Die Antwort lag tief in mir verborgen. Es war mehr als nur der Wunsch, vertraute Orte wiederzusehen. Es war das Bedürfnis, ein verlorenes Kapitel meines Lebens zu berühren – ein Kapitel voller Liebe, Hoffnung und Sehnsucht.

Zurück in der Wohnung, die ich über Airbnb gemietet hatte, wurde mir klar, wie vertraut alles noch war. Es war das gleiche Haus, in dem wir damals, vor 15 Jahren, für eine Woche gelebt hatten. Doch anstatt St. Petersburg in Gesellschaft zu erkunden, war ich nun allein. Mein erster Gang führte mich in den kleinen Kiosk um die Ecke. Zwei Dosen Bier und eine Tüte Chips – ein einsamer Abend inmitten der lebendigen Metropole an der Newa.

„Zwei Bier und Chips?“, fragte die Verkäuferin in einem englisch mit russischen Akzent, während sie mir das Wechselgeld gab. „Ja, das ist alles, was ich brauche“, antwortete ich mit einem schwachen Lächeln. „Das Leben ist manchmal wie ein Chipsbeutel“, sagte sie mit einem ironischen Lächeln, „einmal geöffnet, hört es nie auf.“ Ich lachte kurz, doch als ich die Tür hinter mir schloss und in die unaufhörlich hell erleuchtete Nacht hinaustrat, war der Humor in ihren Worten verschwunden. Die Straßen waren leerer als erwartet, und die Lichter der Stadt hatten plötzlich etwas Künstliches, Entfremdetes. Es war nicht die Dunkelheit, die diese Nacht beherrschte, sondern das lebendige, beinahe surreal wirkende Tageslicht, das niemals ganz verschwand. In den Weißen Nächten schien es, als hätte die Zeit selbst aufgehört.

Die Weißen Nächte in St. Petersburg – sie verzaubern jeden. Die Stadt schwebt im flimmernden, ewigen Dämmerlicht, als ob die Sonne niemals ganz unterginge, sondern den Horizont nur berührte, ohne sich jemals endgültig zu verabschieden. Menschen versammeln sich an den Ufern der Newa, feiern, lachen, singen. Besonders beeindruckend sind die Momente, in denen die Brücken für die Schiffe geöffnet werden. Die beleuchtete Schlossbrücke, die sich wie ein Monument aus Licht über den Fluss spannt, zieht jeden Blick auf sich.

Doch so romantisch die Stadt auch wirkte, diese Nacht war nicht wie damals. Die Einsamkeit machte sich bemerkbar. Ich beobachtete die feiernden Menschen an der Newa und fühlte mich wie ein stiller Beobachter einer Welt, die mir fremd geworden war.
In der Wohnung an der Löwenbrücke wurde die Stille erdrückend. Die Fenster waren geöffnet, aber die kühle Nachtluft konnte die drückende Atmosphäre nicht vertreiben. Ich legte mich auf das knarrende Bett und starrte an die Decke. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, so laut, dass sie die Stille durchbrachen. Warum war ich hier? Was suchte ich wirklich in dieser Stadt?

Plötzlich erinnerte ich mich an Nadeshda. Sie hatte mich hierhergeführt, vor 15 Jahren, auf einer Reise, die damals unvergessen schien. Wir hatten an der Neva gesessen und den Tag damit verbracht, über die Brücken zu schlendern, während sie mir von der Ukraine, Russland, den Menschen und ihrem Leben erzählte. Ihr Lächeln hatte alles erhellt, als hätte es nichts anderes gegeben als Nadeshda und die Geschichten, die sie erzählte.

Am Morgen, nach dieser schlaflosen Nacht, zog es mich in die Straßen von St. Petersburg. Der erste Weg führte mich zum Kiosk. Der Duft von frischem Brot und die schlichte Freundlichkeit der Verkäuferin boten einen Moment der Erdung. Ich kaufte Brot und Wurst, eine Flasche Wasser, und setzte mich auf eine Bank am Rande des Viertels Kolomna.
Die Kanäle des Viertels wirkten wie ein stilles Gedicht, geschrieben für jene, die die Ruhe suchen. Eine Bootstour bot sich an, und ich nahm sie. Das leise Plätschern des Wassers und die sanften Schwünge der Brücken ließen für einen Augenblick die schwere Melancholie in meinem Herzen zur Ruhe kommen. Ich wollte bleiben. Ich wollte gehen. Jede Straße war ein Echo ihrer Stimme, jeder Kanal spiegelte ihr Lächeln. St. Petersburg war eine offene Wunde, die nicht heilte, sondern brannte, je länger ich sie ansah. Ich fühlte mich plötzlich wie ein Fremder in meiner eigenen Geschichte, und der Wunsch, Nadeshda zu finden, wurde zu einer unerträglichen Last.

Am frühen Nachmittag fand ich mich vor dem Café Puschkin wieder. Die Fassade mit ihren verspielten Ornamenten und dem kunstvollen Schriftzug wirkte wie ein Gruß aus der Vergangenheit. Zögernd trat ich ein. Die Luft war schwer vom Duft frischen Kaffees und heißer Schokolade, eine Mischung aus Wärme und Nostalgie, die mich sofort ergriff. „Ein Platz für einen?“, fragte der Kellner mit einem professionellen Lächeln, als er mich musterte. „Ja, bitte“, antwortete ich und folgte ihm zu einem Tisch, der direkt gegenüber der lebensgroßen Statue von Puschkin stand. Ich ließ mich sinken und starrte auf den Stuhl neben der Statue. Da hatte Nadeshda gesessen, vor 15 Jahren, mit ihrem Lächeln, das mehr leuchtete als jede Lampe in diesem Raum. Ich sah sie vor mir, hörte ihre Stimme, als ob sie neben mir saß.

„Das ist nicht nur ein Getränk, sondern Poesie“, hatte sie damals gesagt, als sie die heiße Schokolade probierte. Ihre Augen waren groß und glänzend, ihre Begeisterung für das Leben ansteckend. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie sie den ersten Löffel genoss, als wäre es der Höhepunkt eines langen, geheimen Genusses. Sie hatte gelacht, und ihr Lachen war für mich der Klang von Freiheit und Abenteuer gewesen. „Du denkst, ich trinke Schokolade, aber in Wahrheit trinke ich die Seele Russlands“, hatte sie gesagt, während sie das Glas hob. In diesem Moment war sie für mich mehr als nur eine Freundin. Sie war ein Fenster zu einer Welt, die mir zuvor fremd war, ein Portal in eine andere Dimension der Geschichte, Kultur und menschlichen Erfahrung.
Ich hatte damals nichts entgegnen können, nur mit ihr gelächelt, in ihre Augen geschaut, die unbeschreibliche Freude in ihren Blicken gesehen. Aber jetzt war alles leer. Die Stille des Cafés drang in mein Herz wie ein kaltes Messer. Die Statue von Puschkin, der ständige Beobachter, schien mich zu verurteilen, als wollte sie fragen: „Was hast du aus dieser Zeit gemacht? Was bleibt von der Leidenschaft, die du damals gespürt hast?“ Ich bestellte ebenfalls die heiße Schokolade, ein verzweifelter Versuch, etwas von der Vergangenheit zurückzuholen, doch die kalten Augen der Puschkin-Statue schienen mir zu folgen, als wollten sie mich fragen, ob ich es je verdient hatte, hier zu sein – an ihrer Seite, in diesem Raum voller Erinnerungen. Die Schokolade vor mir war wie das Leben selbst: schön auf der Oberfläche, aber unmöglich zu genießen, wenn das Herz in Trauer versinkt.

Mein Blick fiel auf ein junges Paar, das am Fenster saß, sich leise unterhielt und lachte. Die Leichtigkeit in ihrem Gespräch, der Klang ihrer Stimmen – er schnitt durch meine Einsamkeit wie ein Messer. Ich konnte den scharfen Kontrast kaum ertragen. Sie waren so unbeschwert, so voll von einer Freude, die mir längst fremd geworden war.
„Hast du jemals darüber nachgedacht, warum wir immer hierherkommen?“ fragte die Frau ihren Begleiter, während sie ihre Tasse abstellte. „Hier?“ antwortete der Mann, „Weil es irgendwie wie ein zweites Zuhause ist. Als ob die Zeit hier stillsteht, weißt du?“ „Ja, genau“, sagte sie und sah aus dem Fenster, als würde sie den Fluss der Newa in Gedanken verfolgen. „Es ist, als ob man einfach da ist, ohne sich entscheiden zu müssen. Alles bleibt irgendwie gleich, obwohl sich alles verändert hat.“

Ich konnte den leichten Schmerz in ihrer Stimme hören, als sie diese Worte sagte. Und doch war es nicht der Schmerz, den ich spürte, sondern ein bitterer Hohn, ein Schatten, der über der Zärtlichkeit ihrer Worte lag. Sie waren auf der Schwelle zu einer Zukunft, die ich längst verloren hatte. „Vielleicht ist es nicht so einfach, oder?“ flüsterte der Mann, als ob er die Schwere ihrer Worte begriff. Er legte seine Hand auf ihre und sah sie für einen Moment still an, als wollte er etwas sagen, aber die Worte fehlten.

Ich sah auf mein Glas, versuchte, mich nicht von ihrem Gespräch mitreißen zu lassen. Aber es war unmöglich. Die Erinnerung an Nadeshda überwältigte mich erneut, diesmal wie ein Sturm. Ich wollte aufstehen, hinausrennen, weg von all dem, von all den Erinnerungen, die wie ein unsichtbarer Schleier die Stadt umhüllten. Doch ich blieb sitzen, starrte auf die Schokolade und dachte an die Zeiten, als wir in dieser Stadt so jung gewesen waren, als wir dachten, wir könnten die Welt verändern.
Nadeshda hatte alles verändert. Sie hatte mir gezeigt, dass es mehr gab als nur den Moment. Sie hatte mir die Ukraine und Russland nähergebracht, mir Menschen vorgestellt, die ich nie vergessen würde. Wir waren gemeinsam durch Europa gereist, und in jeder Stadt, die wir besucht hatten, war sie ein Teil von mir geworden. Ihre Liebe zur Kultur, zu den Geschichten, zu den Menschen war ansteckend. Und jetzt saß ich hier, allein, im Café Puschkin, und alles, was blieb, waren die Trümmer dieser Erinnerungen.

Die Schokolade vor mir war kalt geworden. Die Luft im Café fühlte sich plötzlich erdrückend an. Die kalten Augen der Puschkin-Statue, die immer auf mich herabblickte, schienen mir zu sagen: „Du hast deine Antwort nie gefunden, hast nie wirklich verstanden, was du suchst.“
Ich stand auf und verließ das Café, ohne zurückzublicken. Die Erinnerungen, so lebendig wie sie waren, hatten mich in diesem Moment zerstört. Draußen atmete ich tief die kühle Luft ein. Der Himmel über der Stadt war von jenem unendlichen, sanften Dämmerlicht durchzogen, das nie ganz der Dunkelheit weicht. Und dennoch wusste ich, es war Zeit zu gehen.
Ich ging zurück in die Wohnung packte hastig meine Sachen zusammen. Die Löwenbrücke, mein letzter Blick, war wie eine Grenze. Jenseits ihrer Tore lag die Freiheit, doch der Preis war der Verlust. Ich fühlte die Tränen, wollte sie zurückhalten – und ließ sie doch fließen. Es war ein Akt des Verrats und der Erlösung zugleich.

Auf der Straße hielt ich ein Taxi an und nannte dem Fahrer das Ziel: den Bahnhof. Die Straßen zogen an mir vorbei, und das Licht der Weißen Nächte verlieh allem einen Hauch von Ewigkeit. Selbst in diesem leuchtenden, fast magischen Zwielicht schien die Stadt voller Geister – die Geister meiner Vergangenheit, die mir nicht erlaubten, hier Frieden zu finden.
Im Bahnhofsrestaurant, während ich auf den Zug nach Tallinn wartete, überkam mich eine letzte Welle von Nostalgie. Nadeshda und ich hatten hier gesessen, an einem dieser Tische, und gemeinsam auf den Nachtzug nach Moskau gewartet. Damals hatten wir gelacht und Pläne geschmiedet. Doch diese Erinnerung ließ ich nicht übermächtig werden. Nadeshda mußte ich wieder aus meinen Gedanken verdrängen.
Als der Zug schließlich anrollte, konnte ich spüren, wie der Druck auf meiner Brust nachließ. Die Stadt verschwand nicht – ihre Lichter und die ewige Helligkeit der Weißen Nächte waren selbst aus dem Fenster des Zuges noch zu sehen. Doch mit jeder Minute, die mich von St. Petersburg entfernte, wurde die Last der Vergangenheit leichter.

Als ich am nächsten Morgen in Tallinn ankam, atmete ich tief die klare Luft ein. Ein neuer Tag begann, und mit ihm eine neue Möglichkeit, mein Leben in die Hand zu nehmen. Vielleicht war es das, was Dostojewski gemeint hatte: die Kraft, weiterzugehen, selbst wenn die Sehnsucht bleibt. Und doch, selbst als ich die Stadt betrat, hörte ich für einen Augenblick Nadeshdas leisen, vertrauten Atem. War das wirklich ein Abschied? Oder nur eine Pause?

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Bad Letters am 02.01.2025:

Wunderbar geschrieben Jan und ich spüre geradezu die Arbeit an der Sprache. Das mag ich. Chapeau!

MfG
Bad Letters





geschrieben von Jens Richter am 02.01.2025:

Hallo Jan,
in jeder Zeile habe die Melancholie Deiner Ich-Figur gespürt. Du hast das, was die russische Seele ausmacht auf wundervolle Weise beschrieben.
Sehr gern gelesen!
Viele Grüße von Jens




geschrieben von Stephan Heider am 03.01.2025:

Großartig!
LG Stephan

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