Veröffentlicht: 23.01.2025. Rubrik: Lustiges
Die kleine Anna
Die kleine Anna
„Kommst du bitte, Anna?“ Anna schaute hoch, blickte der Person, die das
gesagt hatte, ins Gesicht. Anna saß auf dem Brett vom Sandkasten. In der
linken Hand die Schaufel und in der rechten den kleinen roten Plastikeimer.
„Anna kommt nicht“, war ihre patzige Antwort.
„Anna will ein Eis“, fügte sie nicht weniger patzig hinzu. Erika, so hieß die
junge Frau, die vor dem Sandkasten stand, holte tief Luft, hielt kurz den
Atem an, als ob sie jetzt laut losschreien wollte, besann sich aber und
atme wieder langsam aus. Sie wusste, dass es zwecklos war. Anna, so hieß
ihre kleine Tochter, war für ihren Jähzorn bekannt. Erika wusste, dass in
so einem Zustand ihre kleine Tochter auf niemanden hört. Höchstens noch
auf den kleinen Jungen von nebenan, mit dem sie schon so oft im Sandkasten
gespielt hatte. Aber dieser kleine Junge war heute nicht da. Belix, so hieß
der kleine Junge, er war genauso alt wie die kleine Anna, aber schon fast
genauso groß. Man sah beide Kinder oft zusammen im Sandkasten spielen.
Sie bauten dann zum Erstaunen der anderen Mütter filigrane Gebilde aus
Sand. Sie schufen richtig kleine Kunstwerke, die dann durch den Regen oder
durch andere spielende Kinder wieder zerfielen, wieder zu normalem Sand
wurden.
„Anna will ein Eis, jetzt.“ Die Stimme des kleinen Mädchens nahm beträcht-
lich an Lautstärke zu. Erika erkannte den sich anbahnenden Wutausbruch ihrer
Tochter. Zuerst würde die kleine Plastikschaufel jemandem an den Kopf, dann
der Plastikeimer samt Inhalt wie ein Diskus über den Spielplatz geworfen
werden. Anna war zwar erst drei Jahre alt, hatte aber erstaunlicherweise
eine ausgeprägte Treffsicherheit beim Werfen von Gegenständen, die nicht
ursächlich zum Werfen bestimmt waren.
„Du rotznäsige Göre, es gibt kein Eis, jetzt nicht und nie mehr.“ Erika erschrak
selbst etwas über ihre Grobheit. Aber manchmal war es das letzte Mittel, um
den drohenden Wutausbruch ihre Tochter zu verhindern. In diesem Fall half
dieses Mittel nicht. Sekunden nach Ende des Satzes, prallte die kleine gelbe
Plastikschaufel an Erikas Stirn ab und hinterließ eine kleine Wunde aus der
langsam etwas Blut zu sickern begann. Doch noch bevor die kleine Schaufel
wieder den Boden berührte sah man den roten Plastikeimer hoch durch die
Luft fliegen. Er beschrieb eine einwandfreie ballistische Kurve an dessen
Ende sich dieser, ruhig auf dem Boden liegende, große Dobermann befand.
Der Eimer verfehlte den Dobermann nur knapp. Er landete kurz vor seiner
Schnauze und der ganze Inhalt des Eimers, bestehend aus Sand und kleinen
Kunststofffiguren ergoss sich über den Kopf des Hundes. Er sprang auf,
schüttelte sich kurz und rannte auf den vermeintlichen Bösewicht, einen
älteren Herrn, der an dem Schaukelgerüst stand, zu.
Hunde dürfen eigentlich nicht auf einen Spielplatz. Aber der junge Vater
wollte den Hund nicht allein zu Hause lassen. Und damit der Hund nicht
einfach weglaufen konnte, hatte er die Leine an dem leeren Kinderwagen
befestigt. Ein Kinderwagen ist aber kein guter Fixierungspunkt für einen
Dobermann. Er ist viel zu leicht.
Gemeinsam jagten sie nun, der Dobermann vorweg, gefolgt von einem beinahe
fliegenden Kinderwagen, wohlgemerkt ohne Kind, über den Spielplatz auf
diesen älteren Herrn zu. Jetzt erst bemerkte der Hund seinen Irrtum,
stoppte abrupt und drehte sich ein kleines Stück. Der ihm folgende Kinder-
wagen prallte dem Dobermann voll in die Seite. Und in dem Versuch den
Kinderwagen von sich zu stoßen, verfingen sich die Pfoten des Hundes in
den Speichen der Räder.
„Nochmal, Nochmal!“, rief Anna begeistert und klatschte vor Freude in die
Hände. „Nochmal. War viel besser als Eis. Nochmal.“ Anna ging vor Freude
glucksend zu ihrer Mutter und nahm ihre Hand.
„Mama, ich hab dich lieb. Krieg ich doch noch ein Eis? Bitte.“
Belix Bahei
belixbahei@hotmail.de
23.01.2025