Veröffentlicht: 30.06.2022. Rubrik: Märchenhaftes
Die kleine Kreissäge
Es war einmal eine kleine Kreissäge, die am Rand einer Halle von großen Bohrmaschinen und Drehbänken stand. Direkt neben ihr stand die alte Colemaster-Drehbank, die schon vor über 50 Jahren in diesen Maschinenpark kam. Alle anderen Maschinen waren erheblich jünger.
Die kleine Kreissäge war wirklich im Verhältnis zu den anderen Maschinen sehr klein. Gerne hätte sie von sich gesagt, dass sie zwar klein, aber doch hübsch oder gar schön gewesen wäre. Aber sie war nicht hübsch oder gar schön. Man hatte ihren rot leuchtenden Sägeschutz entfernt, so dass man ihre Zähne bloß liegen sah. Auch ihre anmutende Verkleidung wurde ihr abgenommen. Nun lagen ihr Antrieb und die Keilriemen unbedeckt offen, jedem Betrachter zur Besichtigung freigelegt und sie war über und über mit Sägestaub bedeckt. Sie fühlte sich schmutzig und so unendlich ungeliebt.
Zu allem Unglück war die kleine Kreissäge so traurig, dass sie nicht mehr richtig aufpasste, nachlässig bei ihrer Arbeit wurde. Obwohl sie sich alle Mühe gab, passierte es, dass sie daneben sägte, schräg abschnitt oder gar falsch ablängte. Dann machten sich die großen Maschinen um sie herum lustig über sie, lachten sie aus und sagten Worte wie „Zerschnitter“ oder „Blankzahn“ zu ihr. Nachts, wenn die großen Maschinen schliefen, dann weinte die kleine Kreissäge heimlich und leise.
Dann geschah eines Tages das Furchtbare. Es war wieder ein heißer Sommertag. In der Werkhalle war es heiß und stickig. Zusammen mit ihrem Freund Basti sägte die kleine Säge Kunststoffstreifen für einen wichtigen Kundenauftrag zu. Da passierte es. Kurz passte die kleine Säge nicht auf, der Kunststoffstreifen rutschte aus der Führung, Basti knickte mit der Hand um, der Daumen, zu dicht, das Sägeblatt – dann fiel der Daumen in den Behälter, der die Abschnitte auffangen sollte.
Zuerst war ihr Freund Basti ganz still, aber als das Blut von der Hand auf das Sägeblatt tropfte, schrie Basti wie von Furien gehetzt auf. Schnell kamen andere zu Basti gelaufen und brachten ihn weg. Einer seiner Kollegen nahm den abgetrennten Daumen aus dem Auffangbehälter mit.
Nun war die kleine Kreissäge allein. Die großen Maschinen wandten sich beschämt ab. Einige flüsterten: „Wie kann eine von uns so etwas Furchtbares bloß tun.“ Und die alte Drehbank rief laut: „So was wollen wir hier nicht. Eine Maschine, die Finger absägt, gehört nicht zu uns, ist eine Schande für alle Maschinen in der Halle hier.“ Die kleine Säge hörte ihren Motor summen und wünschte sich, dass er aufhören würde zu funktionieren – für immer. Dann schwanden ihr die Sinne.
Als die kleine Säge wieder aufwachte war sie in einem dunklen Raum, den sie nicht kannte. Hier lagen Kartons und alte Dinge herum. Vermutlich war dies der Keller, tief unter der großen Werkhalle gelegen. Niemand wollte sie jetzt mehr haben und auch ihr Freund Basti, den sie ja so schwer verletzt hatte, würde sie hier niemals besuchen kommen.
Da sprach eine Stimme zu ihr: „Sei nicht verzweifelt, kleine Kreissäge, dein Freund, der Basti, hat selber Schuld. Hat er nicht selbst deinen Sägeschutz demontiert? Und war er es nicht, der deine Führung nicht richtig sauber gemacht hat, so dass der Kunststoffstreifen verrutschen musste?“
Aber konnte das die kleine arme Kreissäge trösten und ihre Traurigkeit mindern? Sie war vergessen und diente nur noch den verirrten Spinnen, die an ihr ihre filigranen Netze webten.
Belix Bahei
belixbahei@hotmail.com