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geschrieben 2024 von Jens (Jens Richter).
Veröffentlicht: 01.08.2024. Rubrik: Fantastisches


Das Tor

Bei meiner Tätigkeit als Kalkulator jongliere ich täglich mit Zahlen, bis am Ende ein konkurrenzfähiger Preis für Dienstleistungen zustande kommt.
Das ging manche Tagen soweit, dass ich nachts von Zahlen träumte bzw. mir Gedanken wegen eines Preises den Schlaf raubten.
Irgendwann artete das in Stress für Körper und Geist aus.
Als Ausgleich gönnte ich mir dann jährlich einen ein- bis zweiwöchigen Wanderurlaub.
Wandern ohne Gepäck war meine Zauberformel, um abzuschalten.
#
Ich buchte eine Wanderung, beschäftigte mich im Vorfeld allerdings kaum mit der Streckenführung und den Sehenswürdigkeiten am Wegesrand.
Mit meiner Ausrüstung war ich für alle Eventualitäten gewappnet.
Vor Ort angekommen, lief ich so aufs tägliche Geradewohl los.
Auf welchem Streckenabschnitt sich das Ganze abspielte, ist von der Sache her uninteressant, da jedermann ein derartiges Erlebnis auf seinem Weg erleben kann.
Es war im Frühsommer vor gut zehn Jahren.
Ich hatte den Gebirgszug zurückgelassen und lief bereits eine gefühlte Ewigkeit auf einem landwirtschaftlichen Weg, welcher ein Getreidefeld in zwei Hälften teilte.
Das Wetter war zum Wandern optimal, sonnig, nicht zu warm, mit einigen Wolken am Himmel.
Dazu blies ein laues Lüftchen.
Plötzlich war da dieses geschlossene Tor inmitten auf dem Weg.
'So ein Blödsinn', dachte ich noch. 'Wer erlaubt sich hier so einen dummen Scherz mit mir.'
Ich trat näher heran.
Über der Klinke des Tores heftete ein Schild "Betreten auf eigene Gefahr!"
Wenn's nicht tatsächlich so gewesen wäre, hätte ich die Szenerie unter "Verstehen Sie Spaß?" verbucht.
Ich guckte links und rechts am Tor vorbei.
Der Weg dahinter ging weiter.
?
Meiner unstillbaren Neugier geschuldet, öffnete ich das Tor und huschte hindurch.
Ich landete in einer völlig fremden Welt.
Von dem bisherigen Weg durch das Getreidefeld war keine Spur mehr zu erkennen.
Der Himmel war Orange, ebenfalls mit Wolken bedeckt, nur in hellgelb.
Die Sonne schien mit einem kräftigen orangen bis rötlichen Schein.
Die Atmosphäre fühlte sich wärmer, harmonischer an.
Ich war inmitten einer städtischen Parkanlage, zwischen kuppelförmigen Bauten herausgekommen.
Im Park gab es gepflegte Wege, Sträucher, Bäume sowie Spielplätze mit Springbrunnen und Skulpturen.
Die Menschen denen ich an diesem Ort begegnete, strahlten mich freundlich an.
Aufgrund meiner Wanderklamotten kam ich mir wie ein Exot vor.
Keine Anderer trug eine derartige Kleidung.
Die Menschen trugen weite, luftige Gewänder in grellen, bunten Farben.
Ich setzte mich auf eine Bank, beobachtete das Treiben.
Neben mir saß ein Einheimischer.
'Müssten die Menschen um diese Tageszeit nicht alle auf Arbeit sein?', fragte ich mich. 'Und wovon leben die dann eigentlich?'
Mein Banknachbar fing an zu lachen und antwortete, "Ich verstehe Deine Fragen nicht. Wir haben hier alles, was wir zum Leben benötigen. Wir haben freie Energie, saubere Atemluft, frisches Wasser. Wenn wir ab und an einmal neue Kleidung benötigen, holen wir sie uns. Mit unserem Bedarf an Nahrungsmitteln verhält es sich nicht anders."
In meinem Kopf ratterte es.
'Konnte er meine Gedanken lesen?'
"Ja, klar und deutlich!"
"Wer hat das hier alles erbaut? Wer erbringt für euch all die Dienstleistungen? Wie verdient ihr euren Lebensunterhalt?"
"Androiden und intelligente Maschinen arbeiten für uns."
"Ist das nicht gefährlich, wenn eine künstliche Intelligenz das Leben der Menschen organisiert?"
"Nein ganz im Gegenteil. Wir haben keine negativen Gedanken, Neid ist uns fern. Und die Maschinen lernen von uns Menschen das, was wir ihnen vorleben. Was also soll von ihnen für eine Gefahr ausgehen?"
Damit hatte er offensichtlich recht.
"Was arbeitet ihr denn dann?"
"Wir arbeiten hauptsächlich gestalterisch, wir forschen und wir entwickeln unsere Gesellschaft stetig weiter. Auf jedem Fachgebiet gibt es geeignete Spezialisten."
Jetzt fragte er mich, wo ich herkäme.
Ich erzählte ihm in kurzer Zeit das wichtigste über mich.
Was ich beruflich tue.
Wie meine Freizeit aussieht.
Was ich geschafft habe.
Und voller Stolz berichtete ich von meiner Familie.
Er schüttelte mit traurige Miene den Kopf.
"Was habt ihr für eine armselige Welt. Ihr strebt nur nach materiellen Dingen, nennt erst an letzter Stelle eure Familie. Alles menschliche stellt ihr hinten an. Es tut so gut, dass wir eure Welt überwunden haben."
"Ich kann mir eure Welt auch beim besten Willen nicht vorstellen", erwiderte ich.
Er griff nach meiner Hand, führte mich zu einem nahegelegenen Kuppelbau.
In einer digitalen Bibliothek nahmen wir vor einem freien Bildschirm Platz.
Wir waren nicht die Einzigen im Saal.
Offenbar wurde das Angebot von den Einheimischen rege genutzt.
Er tippte über eine gläserne Tastatur etwas ein.
Ein Informationsfilm startete.
Es war ein zusammenfassender Film über die Geschichte der vergangenen 200 Jahre.
Eine sympathische Stimme erklärte die einzelnen Szenen des Films.
Nach dem Gemetzel der napelonischen Kriege hatte eine Gruppe enttäuschter Menschen festgestellt, dass Angst, Missgunst, Neid und ewige Kriege immer wieder in eine Katastrophe münden.
Davon hatten sie genug.
Diese Menschen hatten gelernt, dass sie durch die positive Kraft ihrer Gedanken eine neue Zeitlinie erschaffen konnten.
So hatte sich eine kleine Gemeinschaft Gleichgesinnter gegründet, der sich rasch immer mehr Menschen anschlossen.
Diese Pioniere haben diese autarke Welt vorbereitet.
Es begann die harte Ära des Neustartes, erst mit einfachsten Werkzeugen und Geräten.
Irgendwann war die alte Welt für sie nur noch über Portale mit ihrer Welt verbunden.
In dieser Zeit wandelten sie noch zwischen beiden Welten und studierten die Entwicklungen der alten Welt.
Da es jedoch keinerlei Gedankeneinschränkungen für sie in der neuen Welt gab, konnte gutes kontinuierlich weiterentwickelt werden.
Bereits zu Beginn den 20. Jahrhunderts waren sie auf unserem heutigen Wissensstand.
Sie hielten es wie die alten amerikanischen Ureinwohner.
Kein Mensch hatte private Besitztümer und trotzdem gehörte allen Menschen dieser Gemeinschaft alles.
Der nächste Meilenstein war der medizinische Fortschritt.
Schwere Krankheiten wie Alzheimer, Demenz und Schwindsucht (Krebs) gehören längst der Vergangenheit an.
Mit medizinischen Kapseln konnten selbst schwerwiegende Defekte korrigiert werden.
Medikamente werden ausschließlich aus Naturprodukten gewonnen.
Sie hatten es rasch geschafft die durchschnittliche Lebenserwartung auf 130 Jahre zu erhöhen.
Selbst die Kleinen erlernten in Schulen die Fähigkeit der Telepathie und das mentale Heilen von Krankheiten.
Jeder Einzelne tritt wie selbstverständlich für seine Mitmenschen ein, wenn negative Energien von ihm Besitz nehmen wollten.
Und das alles basierte auf den schriftlichen Überlieferungen alter Kräuterfrauen.
Die Einheimischen ernährten sich hauptsächlich vegetarisch.
Nur an wenigen Tagen verzehren sie tierische Nahrung, die größtenteils vom Fischfang oder der Jagd nach Wild abgedeckt wird.
Im Umland ihrer Städte betrieben sie mittels KI-gesteuerter Fahrzeuge und Großmaschinen Landwirtschaft.
Die Menschen überwachen lediglich die Prozesse, nehmen dabei Einfluss auf Qualität und Güte der Erzeugnisse.
Mit der Industrie verhielt es sich ähnlich.
Nach einer reichlichen Stunde hatte ich genug gesehen.
Für mich war das alles Utopie.
Ich musste mit offenem Mund vor dem Monitor gesessen haben, hatte tausende Fragen im Kopf wie:
"Gibt es auch andere Zeitlinien auf der Erde?"
"Mit Sicherheit", antwortete er überzeugt.
In meiner Jugend hatte ich einige Geschichten über utopische Welten verfasst, daher interessierte mich wie diese Menschen sich vor Angriffen aus anderen Zeitlinien schützen.
Mein Begleiter "spulte" den Film ein Stück weit vor.
Auf dem Monitor erschienen Aufnahmen eines Hangars, in dem mehrere Fluggeräte parkten, die dem Millenium Falcon aus Star Wars ähnelten, ausgestattet mit Plasmakanonen.
"Leider müssen wir diese Flugschiffe unterhalten, denn die meisten Welten verhalten sich kriegerisch untereinander. Aber die Angreifer aus diesen Welten bekommen hier keine Chance, unsere Spezialisten haben ihre Kriegsstrategien und -waffen ausführlich analysiert. Unsere entwickelte Technik ist absolut zuverlässig. Bis jetzt hatten wir mit ihnen auch noch keine Probleme. Außerdem denken wir, dass wir ein zusätzliches mentales Schutzschild installiert haben, wodurch nur Gleichgesinnte oder für unser Leben offene Menschen in unsere Zeitlinie Einlass finden."
"Dann bin ich wohl ein offener Mensch?"
Er schmunzelte, "Immerhin hast du das Tor entdeckt und sitzt neben mir."
#
Ich sah auf mein Uhr, hatte es plötzlich eilig.
In zwei Stunden begann die Abenddämmerung und ich hatte bis zu nächsten Etappenziel noch reichlich acht Kilometer zu wandern.
Ich huckte mein Rucksack auf den Rücken, drängte zum Aufbruch.
Der Einheimische brachte mich zurück zum Tor.
Wir umarmten uns, ehe ich in meine Welt zurückkehrte, um meine Wanderung fortzusetzen.
"Achte auf deine Gedanken", rief er mir noch hinterher.
#
Nach meiner Rückkehr erzählte ich niemandem etwas von meinem Erlebnis.
Die mussten mich doch für bekloppt halten.
In den vergangenen zehn Jahren hatte ich mich noch mehrmals auf den Weg gemacht, um das besagte Tor zu finden.
Vergeblich.
Vielleicht weil ich in meiner Welt, so zwiespältig sie auch ist, zu Hause war.
Je mehr ich darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich wohl damit beginnen sollte, Gleichgesinnte zu finden, die mit mir so eine Welt gestalten wollen, die ich hinter dem Tor entdeckt hatte und unserer schöpferischen Vorstellung entspricht.
Die Zeit scheint jedenfalls reif dafür.

(C) Jens Richter, 2024

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Ernst Paul am 01.08.2024:
Kommentar gern gelesen.
Wir sollten solche Träume auf den Weg bringen. Die Menschen haben ein Recht auf ein normales Leben. Deine Geschichte habe ich sehr gern gelesen.




geschrieben von Jens Richter am 01.08.2024:

Hallo Ernst Paul,
vielen Dank für Deinen Kommentar.
Diesen Traum hatte ich tatsächlich vor ca. 10 Jahren.
Seit dem hatte der Traum mich immer mal wieder beschäftigt. Anfang dieses Jahres hatte ich ihn dann, verpackt in diese kleine Geschichte niedergeschrieben. Hat bis jetzt gebraucht, um sie ins Reine zu pinseln.
In diesem Sinne viele Grüße von Jens




geschrieben von Bad Letters am 02.08.2024:
Kommentar gern gelesen.
Die Menschheit, könnte wirklich einen Neustart gebrauchen Jens, aber wie sollte er gelingen, wo wir nur wieder damit beschäftigt sind, uns gegenseitig Angst zu machen und unsere Besitzstände zu verteidigen. Es wird wohl den ganz großen Knall brauchen, um unsere Spezies wirklich wachzurütteln. Ein Text, der nachdenklich stimmt.

MfG
Bad Letters





geschrieben von Jens Richter am 02.08.2024:

Hallo Bad Letters,
vielen Dank für Deinen Kommentar.
Auf den großen Knall kann ich gern verzichten.
Es reicht schon, wenn sich die meisten Menschen vom Hirnbesitzer zum Hirnbenutzer weiterentwickeln würden.
Viele Grüße von Jens

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