Veröffentlicht: 13.06.2024. Rubrik: Aktionen
Das Holzkästchen (Juniaktion)
Beim letzten Umzug in unsere jetzige Wohnung hielt ich es wieder in der Hand, das quadratische Holzkästchen mit aufklappbarem Deckel, auf dem eine rote Rose aufgemalt ist.
Wieder stand ich vor der Entscheidung, lege ich es am Straßenrand in einen Karton, wo sich interessierte Menschen, die an diesem Teil gefallen finden, einfach bedienen oder behalte ich es.
Zugegeben für einen Mann ist das Holzkästchen ein wenig kitschig.
Als 1976 mein Großvater väterlicherseits verstarb, gelangte das Holzkästchen in meinen Besitz.
Während meiner Kindheit und als Jugendlicher diente es mir als Schatzkästchen.
Ich bewahrte darin meinen Zauberwürfel, ein Minitaschenmesser, ein Silberkettchen mit Kreuz, welches ein Geschenk einer längst verflossenen Freundin war und einige selbstgesammelte Bernsteine auf.
Das Kästchen war mein Heiligtum.
Als ich nach meiner Lehre aus meinem Elternhaus auszog, wollte ich das Kästchen das erste Mal loswerden.
Das verhinderte mein Vater, indem er sagte, "Behalte es doch als eine Erinnerung an deinen Opa."
Dann erzählte mir mein Vater, dass Großvater von Kinderbeinen an eine künstlerische Ader hatte.
In seiner Freizeit hatte er oft gemalt, geschnitzt und gestaltet.
Er war sehr talentiert und träumte davon Kunst zu studieren.
Aber Großvaters Familie war nicht vermögend und wurstelte sich durch die 10er und 20er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Und da er obendrein der älteste Sohn war, half er von Jugendjahren an in der kleinen Tischlerei seiner Eltern mit.
An ein Studium der Künste war also nicht zu denken.
Ab der Mitte der 30er Jahre ging es der Familie wirtschaftlich deutlich besser.
Zu dieser Zeit lernte er meine Großmutter kennen.
Für sie fertigte er dieses Holzkästchen als Geschenk an.
Das kleine Kästchen überstand wie ein Wunder den Bombenterror auf Dresden.
Von den Worten tief berührt, behielt ich damals das Holzkästchen.
Da ich es einfach nicht weggeben kann, hoffe ich, dass es nach mir ein Familienmitglied übernimmt.
(C) Jens Richter im Juni 2024