Veröffentlicht: 18.12.2021. Rubrik: Menschliches
Das Mädchen mit dem knallroten Mund
Es war ein eigenartiges Gefühl, nach so vielen Jahren der Abwesenheit das Elternhaus wieder zu betreten. Er hatte es als junger Mann verlassen. Sein dominanter Vater hatte verlangt, dass er die Schmiede-Werkstatt, seit Generationen im Familienbesitz, weiterführen solle. Dabei war er handwerklich völlig unbegabt.
Darüber hinaus sollte er Anna, die Tochter des reichsten Landwirts im Dorf, heiraten. Sie war klein, schmächtig, hatte weißblonde Haare und ganz blasse Haut. Ziemlich farblos also! Was ihr offenbar bewusst war, denn sie malte ihre blassen Lippen grellrot an. Diesen schrillen Farbtupfer in ihrem Gesicht fand er schrecklich, besonders wenn sie das Haus seiner Eltern betrat und ihm im Vorbeigehen eine Kusshand zuwarf. Sie kannte die Pläne ihrer beiden Väter und war überhaupt nicht abgeneigt, seine Frau zu werden.
Er wollte also weder Schmied werden noch dieses Mädchen heiraten. Als sowohl sein Vater als auch Anna immer fordernder wurden, hatte er die Flucht ergriffen. Er war bei einem Freund untergekommen, der in Kassel studierte. Dort hatte er zunächst seinen Lebensunterhalt mit Nebenjobs bestritten. Später schaffte auch er es, einen Studienplatz in Germanistik zu ergattern und nebenbei Gelegenheitsjobs auszuführen. Das Studium ermöglichte ihm das, was er tatsächlich schon immer tun wollte: Geschichten schreiben, vielleicht sogar Bücher…..
Und er wollte keine Frau heiraten, die aussah, als litte sie an Schwindsucht. Ein Bauernmädchen hatte ein rundes rotwangiges Gesicht, war braun gebrannt von der Feldarbeit und hatte eine etwas füllige Figur. Das war jedenfalls seine Meinung!
Ach Anna! Wie überrascht war sie wohl, als er plötzlich nicht mehr im Elternhaus wohnte? Er stellte sich vor, wie sie irgendwann in seinem Zimmer gestanden haben musste. Ob sie darauf wartete, dass er doch noch zur Tür herein kam? Ob sie seine Schränke und Schubladen öffnete, um die Dinge zu betrachten, die er wichtig fand und verwahrte? Vielleicht hatte sie ihren knallroten Kussmund auf sein schneeweißes Kopfkissen gedrückt als Zeichen ihrer Zuneigung. Bei dieser Vorstellung brach ihm der Schweiß aus.
Seinen Vater konnte er nicht mehr fragen; der saß im Lehnstuhl unten im Wohnzimmer und konnte sich an an nichts mehr erinnern. Er wusste wahrscheinlich nicht mehr, dass er Schmied gewesen war und ihn, seinen Sohn, in die gleiche Laufbahn hat drängen wollen. Bestimmt hatte er auch Anna aus den Augen verloren, die er sich so gut als Schwiegertochter hat vorstellen können.
Warum eigentlich? War der Grund darin zu suchen, dass ihre Eltern so wohlhabend waren? Oder erinnerte ihn Anna an Vaters Frau, seiner Mutter, die ebenfalls hellblond und zierlich war, die leider früh verstarb und das Zerwürfnis zwischen ihrem Ehemann und ihrem einzigen Sohn nicht miterleben musste.
Warum durfte er nicht selbst entscheiden, welchen Beruf er ergreifen und welche Frau er heiraten würde? Warum wollte das sein Vater für ihn tun?
Zwar hatte er jetzt, mit nahezu 40 Jahren, noch immer nicht die richtige Frau gefunden, aber beruflich hatte er es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Und zwar mit dem Schreiben von Kriminalromanen, also ganz ohne Arbeit, denn diese Beschäftigung war für ihn Entspannung und Hobby zugleich. Er hatte einen Kriminalkommissar erfunden, der alles andere als ein Superheld war, sondern ein Mensch mit Fehlern und Schwächen, aber mit einer großartigen Spürnase, die ihm half, den Verbrechen auf die Spur zu kommen. Inzwischen war der siebte Fall, den Kommissar Luchs gelöst hatte, als Buch erschienen. Seine Leser waren begeistert, seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und gerade hatte er eine Anfrage auf Verfilmung der Bücher erhalten.
Gedankenverloren wanderte er durchs Haus. Da hörte er vom Wohnzimmer her eine Frauenstimme, die mit seinem Vater sprach. Er ging die Treppe hinunter und betrat das Wohnzimmer. Und erkannte sie sofort: Es war Anna, etwas fülliger nun, das weißblonde Haar mit hellbraunen Strähnen durchzogen, nicht mehr ganz so blass, aber immer noch mit diesem knallrot angemalten Mund. Sie lächelte ihn an. „Ich habe mich, seit es notwendig ist, um deinen Vater gekümmert“, sagte sie. „ Ich bin seine gesetzliche Betreuerin.“
In dieser Funktion hatte sie auch das Vermögen seines Vaters verwaltet. Und ihn täglich bei seinen normalen Verrichtungen unterstützt.
Sie tauschten sich aus, wie ihr jeweiliges Leben verlaufen war. Sie hatte keinen seiner Kriminalromane gelesen und somit auch nichts von seiner Schriftstellerlaufbahn gehört. Und da sie nicht wusste, wie sie ihn finden konnte, hatte sie sich kurzerhand selbst um die Betreuung seines Vaters bemüht.
Sie war inzwischen mit einem Landwirt aus der Nachbarschaft verheiratet und hatte drei Kinder, alles Mädchen im Alter von 14, 11, und 9 Jahren. Sie sei sehr glücklich mit ihrem Mann und den Töchtern.
Sein Vater habe die Schmiede-Werkstatt verkauft, als er zwar vergesslicher wurde, aber noch nicht an eine Demenzerkrankung zu denken war. Sie zeigte ihm alle Unterlagen und Abrechnungen. Er war erstaunt, wie korrekt und präzise sie gearbeitet hatte.
Er fühlte ein leises Bedauern, sie damals nicht geheiratet zu haben. Jetzt war es zu spät.
Dann hatte er die Idee, in seinem achten Kriminalroman Kommissar Luchs eine Assistentin zur Seite zu stellen, die ebenfalls Anna heißen und so wie sie aussehen sollte. Diese Frau würde sehr clever und Kommissar Luchs bei der Aufklärung von Verbrechen eine wertvolle Hilfe sein. Die mangelnde Körpergröße könnte sie durch besonders sportliche Wendigkeit kompensieren. Ihr besonderes Kennzeichen würden ihre grellrot bemalten Lippen sein.
Diese Romanfigur würde in jedem seiner zukünftigen Kommissar-Luchs-Fälle eine entscheidende Rolle spielen und bald als Anna, die junge Kommissarin mit dem knallroten Mund, berühmt-berüchtigt werden.
Doch die Frau für’s Leben hatte er noch nicht gefunden! Dafür hatte er sich mit seinem Vater versöhnt, der friedlich in seinem Lehnstuhl schlummerte.